Donnerstag, 27. August 2015

Das Kaiserreich rosarot. Franz-Lothar Krolls Apologie der deutschen Geschichte zwischen 1871 und 1914

Im Grunde ist es ja nicht verwerflich, wenn sich auch HistorikerInnen politisch äußern; ja es ist geradezu geboten, dass vor allem sie sich in gesellschaftspolitische Debatten einmischen und mit ihrem spezifischen Wissen für die nötige (historische) Tiefendimension in tagesaktuellen Fragen sorgen.

Problematisch ist allerdings, wenn sie in ihren wissenschaftlichen Beiträgen politisch argumentieren, ohne ihren Standpunkt explizit zu machen. Wenn sie also ihre eigene politische Position quasi zu wissenschaftlichen Erkenntnissen aufwerten. Für den Rezensenten ganz besonders problematisch wird es dann, wenn der Autor auch noch eine von der eigenen divergente politische Position  vertritt - und diese in immer neuen Anläufen breittritt.

Genau so ging es mir bei der Lektüre von Frank-Lothar Krolls Band zur "Geburt der Moderne", den der Autor selbst wohl als wissenschaftlich abgesicherte Verteidigung des Kaiserreichs verstanden wissen will. Anstatt sich lange mit diffizilen Begriffsfragen auseinanderzusetzen, zu denen schon die titelgebende 'Moderne' Anlass böte, geht Kroll direkt in medias res, arbeitet sich zuweilen rüpelhaft am selber nicht eben mit Samthandschuhen argumentierenden Hans-Ulrich Wehler ab (dem man zumindest nicht vorwerfen konnte, den Moderne-Begriff unreflektiert verwendet zu haben) und versucht dem Leser deutlich zu machen, warum es denn im Kaiserreich nicht gar so schlecht war, wie es uns die Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre glauben machen wollten.

Die Fragwürdigkeit dieses Unterfangens ergibt sich schon aus der Zäsursetzung; Explizit klammert der Autor den Ersten Weltkrieg aus seinen Betrachtungen aus, externalisiert das millionenfache Leid somit aus seiner Argumentation, auf dass es nicht das rosarote Bild des Wilhelminismus trübe.

Wo es nun aber partout nichts Positives an der Verfasstheit des Kaiserreichs zu finden gibt (so zum Beispiel beim preußischen Dreiklassenwahlrecht und den bewusst ungerecht zugeschnittenen Wahlkreisen) genügt sich Kroll mit dem Hinweis darauf, dass es anderswo nicht besser war - als machte es das besser.

In einer vollständigen Ausblendung der kulturgeschichtlichen Theoriebildung der letzten dreißig Jahre behandelt Kroll im Abschnitt zur Kultur nur Werke zur Hochkultur - von denen er selber eingestehen muss, dass sie zeitgenössisch nur äußerst marginal und nur in bestimmten Zirkeln wahrgenommen wurden. Dass Erzeugnisse der Arbeiterkultur im Vergleich zu den Sinfonien eines Schönberg heutzutage nicht die gleiche Wertschätzung erfahren, sollte den Autoren doch nicht daran hindern, an ihnen ebenfalls Elemente der Zeit herauszudestillieren, in der sie entstanden.

Ganz davon abgesehen, dass "Kultur" weit mehr umfasst als das, was man landläufig unter Kulturgütern (ob nun E- oder U-) versteht. Ein kulturgeschichtlicher Blick auf das Kaiserreich sollte nicht nur Hauptmann und Kadinsky, sondern auch Themen wie "Militarismus", "Antisemitismus" und "Antifeminismus" enthalten, um nur einige Aspekte zu nennen. Sie alle kommen nicht vor oder wenn, dann nur am Rande. Man ist geneigt, dem Autoren Absicht zu unterstellen, ließe sich doch unter Hinzuziehung von Chamberlain und Rembrandtdeutschen nur schwerlich das Bild eines weltoffenen und wissenschaftlich vorbildlichen Kaiserreichs aufrecht erhalten.

Warum es mir geht, ist gar nicht, die 'modernen' Elemente des Kaiserreichs zu negieren; was allerdings nicht angehen kann, ist der vollständige Ersatz der Fundamentalablehnung des Kaiserreichs durch eine kritiklose Apologie! Dass es auch differenzierter geht, beweisen Christopher Clarks Arbeiten. Die Frage ist nun nur noch, warum die Bundeszentrale für politische Bildung es für nötig befunden hat, Krolls fragwürdiges Buch in ihre Schriftenreihe aufzunehmen ...

Rezension zu: Frank-Lothar Kroll, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Bonn 2013 (BpB Schriftenreihe 1340)

Montag, 1. Dezember 2014

„Ein Selbstzwang, der sich als Freiheit ausgab.“ Zu Sven Reichardts monumentaler Studie „Authentizität und Gemeinschaft“.

Wenn eine Habilitationsschrift in der renommierten Wissenschaftsreihe bei Suhrkamp erscheint, kann das zwei Gründe haben. Zum einen wäre das sowohl die stilistische als auch die akademische Brillanz des vorgelegten Werkes. Zum anderen wäre diese Form der Adelung aber auch betriebswirtschaftlich zu erklären – der Verlag ginge in diesem Fall davon aus, dass der Personenkreis, der mit der inzwischen sprichwörtlichen Suhrkamp-Kultur groß geworden ist, ein gesteigertes Interesse an diesem Buch haben könnte. Letzteres trifft bei Reichardts Buch ohne Zweifel zu, denn in seiner Studie geht es genau um sie (und auch das Argument der herausragenden Qualität wird in weiten Teilen eingelöst).

Worum geht es Reichardt also in dieser fast tausendseitigen Schrift: Der Autor hat sich die unterschiedlichsten Schattierungen des linksalternativen Lebens der 1970er und frühen 1980er Jahre vorgenommen und er fragt weniger nach den allbekannten und politikgeschichtlich schon recht gut erforschten politischen Zielen der Gruppierungen, wie sie sich in Anti-AKW-, Friedens- und Frauenbewegung ausdrückten. Reichardt verlässt die eingefahrenen Bahnen politikgeschichlicher Forschung (die neben wirtschaftsgeschichtlichen Fragen) noch immer die Erforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominieren – und das zurecht, ging es doch zunächst darum, die groben Linien dieser Epoche zu vermessen, bevor ausgehend von den entsprechenden Befunden auch anderen Themen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Reichardt geht nun der Frage nach, wie die Personen lebten, die sich in Brokdorf auf Demonstrationen gegen die Atomindustrie, in Bonn gegen die NATO-Nachrüstung oder überall gegen die männliche Vorherrschaft in Familien und Arbeitsleben engagierten. Wie gestalteten sie ihren Alltag? Wie lebten sie? Wie arbeiteten sie? Und vor allem: Wie sprachen sie darüber?

Äußerst überzeugend wählt Reichardt die beiden Begriffe „Authentizität“ und „Gemeinschaft“, um sich sowohl die Lebensstile als auch Fraktionierungen innerhalb des linksalternativen Milieus zu erschließen. In unterschiedlichen Themenfeldern – von der linksalternativen Presse über Wohngemeinschaften bis hin zu Frauen- (und Männer-)bewegung, Kindererziehung, alternativen Betrieben, Spiritualität und Drogenerfahrungen – sucht Reichardt nach der Einforderung von authentischen Erfahrungen, Arbeitsverhältnissen, Beziehungen, die den Zwängen der als entfremdet wahrgenommenen bundesrepublikanischen Gesellschaft mit ihrem Streben nach Konsum und Karriere entgegengehalten wurden.

Von K-Gruppen und Resten der 68er als unpolitische Privatiers geschmäht, sahen die Angehörigen des alternativen in dem, was sie taten, doch eine neue Form des Politischen, so Reichardt. Überzeugend argumentiert Reichardt, dass mit diesem neuen Lebensstil jedoch keineswegs das Ende aller Zwänge eingeläutet wurde – vielmehr wurden neue Zwänge aufgebaut, die oftmals unbewusst eine enorme Wirkmächtigkeit entfalteten. Allen voran, der Zwang zur allgegenwärtigen Selbstoffenbarung, zur Öffentlichmachung privatester Details unter der Maßgabe: „Sei authentisch!“


Kritisch anzumerken wären bei Reichardts Studie einige Redundanzen, die sich wohl vor allem daraus ergeben, dass sich die unterschiedlichen Kapitel auch separat lesen lassen können sollen, während die behandelten Themen jedoch nicht immer trennscharf zu scheiden sind. Man kann sich jedenfalls gut vorstellen, dass sich an den unterschiedlichsten Universitäten in Seminaren zu den 1970er und 1980er neben der thesenhaft zuspitzenden Studie von Doering-Manteuffel und Raphael („Nach dem Boom“) Studierende auch mit einzelnen Kapiteln aus Reichardts Studie beschäftigen werden – und für einen derartigen Kontext eignen sich die Kapitel sicher ganz hervorragend. Noch problematischer erscheint mir allerdings der Umstand, dass das von Reichardt (sicher zurecht) als bunt beschrieben Milieu in der wissenschaftlichen Bearbeitung ganz ohne Bildteil auskommen muss. Ein paar wenige Fotos aus selbstverwalteten alternativen Betrieben oder Wohngemeinschaften, nur wenige Reproduktionen aus der von Reichardt so überzeugend beschriebenen alternativen Presse, und schon wäre die Studie noch anschaulicher geworden, als sie es ohnehin schon – trotz ihres wissenschaftlichen Niveaus und ihres beträchtlichen Umfangs – ist!

Dienstag, 16. September 2014

Quo Vadis NS-Forschung: Volksgemeinschaft, Hitlermythos oder doch "fatale Attraktion"?

Thomas Rohkrämer macht mit seinem neuen Buch über die "fatale Attraktion des Nationalsozialismus" eines deutlich - wie man trotz einer wichtigen und interessanten Fragestellung ein Buch schreiben kann, dessen es nicht bedurft hätte. Liegt es daran, dass der Autor mit einer schier nervtötenden Penetranz seine eigene Wortschöpfung immer wieder auftischt, auf dass man sie dann auf jeden Fall bei nächstmöglicher zitieren möge. (Dass sie dazu noch grammatikalisch windschief ist, geht es doch Rohkrämer mehr um "fatale Attraktivität" des Nationalsozialismus und nicht um "Attraktionen", sei nur am Rande bemerkt.); sei es, dass er trotz dieser neuerlichen Begrifflichkeit nichts Neues zu sagen weiß - in jedem Fall fragt man sich schon, ob es dieser gut 330 Textseiten bedurft hätte, welchen Erkenntnisgewinn man bei sich selbst verzeichnen kann und was nun genau Rohkrämers Thesen sind, die die historische Forschung zum Nationalsozialismus voranbringen sollen.

Dieser unbefriedigende Eindruck ergibt sich vor allem daraus, dass Rohkrämer zwar in guter wissenschaftlicher Manier in der Einleitung die Studien und Forschungsrichtungen zum Nationalsozialismus benennt, von denen er sich mit seiner eigenen Arbeit abzusetzen gedenkt - was dann im Hauptteil folgt, ist allerdings nichts anderes als die wenig inspirierte Wiedergabe eben genau dieser Arbeiten (zuweilen noch in nervtötend flapsiger Sprache, in der aus "Villen" "Villas" werden und immerzu "gemeckert" wird, als gäbe es dafür kein weniger umgangssprachliches Wort).

Alys Ansatz sei zu materialistisch, Kershaw beziehe sich zu ausschließlich auf Hitler und den um ihn herum konstruierten Mythos und auch die augenblicklich florierende Volksgemeinschaftsforschung (deren innovatives Potential durchaus auch in vielen Punkten fraglich ist) reicht Rohkrämer ebenfalls nicht - so liest sich jedenfalls seine Einleitung. Und was bekommen wir dann zu lesen? Eine Kurzfassung der Forschungen Kershaws; einen Überblick über die materiellen Versprechen an die "Volksgenossen"; Darstellungen über die freudige Einpassung in die "Volksgemeinschaft", die nicht nur Versprechungen macht, sondern auch Forderungen an den einzelnen stellt. Alles abgeschmeckt mit ein wenig Benjamin und dessen (durchaus überzeugender) These von der "Ästhetisierung der Politik", die im Nationalsozialismus neue Früchte getragen hat. Auch das ist nicht neu, den "schönen Schein" des Nationalsozialismus haben uns schon andere hinter dem dunklen Schleier der Massenverbrechen hervorgeholt.

Um positiv zu schließen, kann man Rohkrämer attestieren, eine flüssig geschriebene Zusammenfassung der Forschungen zum Nationalsozialismus als "Zustimmungsdiktatur" geliefert zu haben - mehr nicht. Dies ist durchaus einen anerkennenswerte Leistung, wenn nicht die Versprechungen in der Einleitung auf mehr hindeuteten. Dass darüber hinaus die Quellenauswahl wenig innovativ ist - von Tagebuchaufzeichnungen über Memoiren bis hin zu den Abhörprotokollen, die von Neitzel und Welzer analysiert wurden, alles nur immer wieder zitiertes und bekanntes Material -, fügt sich ins insgesamt wenig überzeugende Gesamtbild.

Rezension zu: Thomas Rohkrämer, Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus. Über die Popularität eines Unrechtsregimes, Paderborn 2013.

Samstag, 6. September 2014

"Der Keim der wahren Freiheit, gedeiht in Unfreiheit." Lutz Seiler hat mit seinem Roman "Kruso" den wohl bedeutendsten literarischen Beitrag zum Ende der DDR geschrieben

Sucht das Feuilleton noch immer den Roman zum Ende der DDR? Die Suche hat in diesem Herbst, 25 Jahre nach Öffnung der Grenzen, ein Ende. Lutz Seilers „Kruso“ ist die wohl beste bislang erschienene Annäherung an die Geschehnisse im Jahr 1989.

Weniger das inzwischen sprichwörtliche Leben der Anderen, sondern ein anderes Leben, das richtige Leben im falschen, die Freiheit in der Unfreiheit sind Seilers Themen. Geschickt siedelt er seine (autobiographisch gefärbte) Geschichte im äußersten Randgebiet der DDR an, auf dem kleinen Raum der Ferieninsel Hiddensee suchen seine Akteure die Freiheit – und werden von der Grenzöffnung überrascht.

Die Insel wird im Roman zur Metapher; jeder sucht sich seine Enklave möglichst großer Freiheit. Die historisch belegten Einquartierungen von Besuchern auf der Insel, die der Enge der DDR entkommen wollten, werden mit esoterisch anmutenden Initiationsriten versehen und so zum Eingangstor in eine andere Welt.

Das Leben der Hauptfigur Edgar Bendler, dessen Freundin von einer Straßenbahn überfahren wurde, gerät aus den Fugen. Statt der vielversprechenden Fortsetzung des Germanistikstudiums findet sich Edgar (genannt Ed) mittellos auf Hiddensee wieder, der Insel, deren Namen den namensgebenden Protagonisten Krusowitsch (genannt Kruso) zu allerlei Wortspielen einlädt, bedeute „hidden“ doch im Englischen versteckt. Ed wird Abwäscher in einer Ausflugsgaststätte, taucht immer weiter in die Geheimnisse der Insel ein, erlebt das Ankommen und Abreisen von neuen Besuchern, die auch für Ed amourös-existentielle Abenteuer bereithalten, und freundet sich mit Kruso an.

Wir schreiben das Jahr 1989, die Massenfluchten, über die der Deutschlandfunk im immer laufenden Küchenradio berichtet, hinterlassen auch ihre Spuren auf Hiddensee. Die „Besatzung“ schrumpft, immer mehr Mitarbeiter aus der Gaststätte entschließen sich zur Flucht über das Meer bis auf das dänische Festland – und nicht alle schaffen diese gefährliche Reise.


Die Idee, die Freiheit vor Ort zu ermöglichen, scheitert, die Verlockungen des Westens sind zu stark. Seilers Roman bezieht seine Stärke zunächst aus dem Raum, in dem er angesiedelt ist: Hiddensee, nicht mehr ganz DDR (trotz Grenztruppen und „Hygieneinspektoren“ mit verdächtigen Staatssicherheitsallüren), aber noch nicht Westen, so liegt die Insel im Zwischenraum – in dem Zwischenraum, in dem die von Kruso so viel gepriesene Freiheit zu finden ist. In magisch-realistischem Stil (als letzter Abgesang auf den realsozialistischen Realismus der Literatur der DDR?) beschreibt Seiler diese Exterritorialität als Möglichkeit, sich zumindest den Sommer über, frei zu fühlen und frei zu leben. Diese Suche nach etwas Anderem, nach dem anderen Leben jenseits von staatlicher Gängelung und kapitalistischer Verführung gibt Seiler in seinem Roman Raum. Eine Suche, die durch die Wiedervereinigung jäh unterbrochen wurde und an die zum Ende hin sowieso nur noch der daran psychisch zugrunde gehende Kruso und Ed geglaubt zu haben scheinen.

Seiler schließt mit einem Epilog, in der die Suche weitergeht. Die DDR ist inzwischen - sinnbidlich - untergegangen, Ed hingegen lässt der Gedanke an die bei ihren Fluchtversuchen ums Leben gekommenen Flüchtlinge nicht los und beginnt die Recherche; allein für diese letzten dreißig Seiten lohnt die Lektüre des Buches, gehen sie doch in einem mehr als überzeugten Reportage-Stil den Versäumnissen der wiedervereinigten Erinnerungskultur in Bezug auf diese Opfergruppe mehr als überzeugend nach.

Die Homepage des Suhrkamp-Verlages zum Roman

Freitag, 5. September 2014

Kindliche Perspektiven auf die Grausamkeit des Krieges. Eine Ausstellung in der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße zu polnischen Kinderzeichnungen aus dem Jahr 1946

Wesen ohne Hals und ohne Unterkörper, dafür mit direkt am Brustkorb ansetzenden Beinen und langen Armen – und Mützen, auf denen ein Hakenkreuz zu sehen ist. Eckige Häuser, denen wild lodernde Flammen aus dem Dach steigen, gezeichnet mit Buntstift und roter Tinte. Davor stilisierte Figuren, zeichnerisch zwischen Strichmännchen und einem altersgerechten Realismus angesiedelt.

Wenn Kinder den Krieg sehen und anschließend zeichnen – was kommt dabei heraus? Die Ausstellung „Kinder im Krieg. Polen 1939 – 1945“, die in der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße in Braunschweig gezeigt wird, versucht Anworten auf diese Frage zu geben. Oder besser: Polnische Kinder, 1946 durch ein Preisausschreiben einer Zeitung dazu animiert, geben die Antwort selbst, der Gedenkstätte kommt nur das Verdienst zu, diese Quellen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und sie sind es wert, von möglichst vielen Personen gesehen zu werden: nicht nur ihre relative Unbekanntheit (zumindest in Deutschland, in Polen werden sie wohl schon häufiger als Quellen für die historische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg verwendet), sondern auch die kindlich-künstlerische Verarbeitung des Krieges in diesen Bildern machen diese (zugegeben) eher kleine Ausstellung mehr als sehenwert.

Die begleitenden Texte sind auf das Notwendigste beschränkt, die Bilder sollen gleichsam für sich selbst sprechen – und das tun sie. Kurze Hintergrundinformationen zur brutalen deutschen Besatzungspolitik machen deutlich, dass die grausam-grotesken Szenen keineswegs der infantilen Phantasie mit ihrer Vorliebe für brutal-drastische Darstellungen entsprungen sind. Mit den Mitteln des schulischen Kunstunterricht versuchen Kinder (zum Teil noch Erstklässler) auf ihre Art ihren Erlebnissen einen (im kunstgeschichtlichen Sinne) realistischen Ausdruck zu geben. Dass diese Bilder dann eher an die Werke eines George Grosz erinnern als an gegenwärtige Kinderzeichnungen mit einladenden Spitzgiebelhäusern und lachenden Sonnen, ist dem Erfahrungshintergrund der jungen Künstler geschuldet. (Und belegt dialektisch betrachtet wieder einmal, dass George Grosz einer der größten realistischen Maler des 20. Jahrhunderts war, und das gerade weil er die Welt nicht malte, wie sie aussah, sondern wie sie war!)

Nach den traumatischen Erfahrungen der hier ausgestellten Kinder verwundert es nicht, dass das Material auch polnischen Psychologen dabei helfen sollte, mit den Kindern zu arbeiten, um ihnen so ein möglichst normales Leben nach dem Krieg zu ermöglichen. Und hier beginnt auch schon die mehr als spannende Nachgeschichte der Quellen, die die Kuratorin der Ausstellung, Iris Helbing, in ihren einleitenden Worten deutlich machte: Nachdem tausenden von Zeichnungen bei der Zeitung eingegangen waren, ja nachdem selbst ganze Klassen dazu ermuntert worden waren, ihre Erfahrungen zeichnerisch zu Papier zu bringen, wanderte ein Großteil der Bilder in ein polnisches Archiv. 100 von ihnen allerdings kamen, als Dankeschön für die tatkräftige Unterstützung, zu einem Helfer nach Dänemark und wurden nach dessen Tod der polnischen Botschaft in Kopenhagen übergeben – genau die Bilder sind es nun, aus denen die Ausstellung eine Auswahl präsentiert.


Zum Abschluss noch ein paar geschichtsdidaktische Überlegungen: Von der Kuratorin wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ausstellung besonders für Schulklassen geeignet sei, um sich über die Zeichnungen vermittelt einen Zugang zum Thema Zweiter Weltkrieg zu ermöglichen. Die Grundannahme dabei: Schüler könnten sich eher mit Quellen identifizieren, die von Personen ihres Alters produziert worden seien. Aber ist das wirklich so? Mir scheint das eine noch immer zu wenig untermauerte Annahme vieler geschichtsdidaktischer Projekte sowohl des schulischen Unterrichts als auch außerschulischer Lernorte zu sein. Hier sollten empirische Studien klären, ob es tatsächlich der Fall ist. Und zweitens sollte gefragte werden, ob Identifikation überhaupt das Ziel sein kann …  

Informationen der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße zur Ausstellung

Sonntag, 31. August 2014

Ruf aus der Gruft. Zu Hans-Ulrich Wehlers Essayband "Die Deutschen und der Kapitalismus"

Seinem Freund und Generationsgenossen Habermas entsprechend, der mit seinen immer wieder in Buchform zusammengefassten "Kleinen Schriften" kürzere Beiträge zum Zeitgeschehen publiziert, ist es auch bei Wehler gute Tradition, dass seine verstreut erschienenen Beiträge in regelmäßigen Abständen gebündelt erscheinen. Was der C.H.-Beck-Verlag in Wehlers Todesjahr nun publiziert ist Wehler at his best - und at his worst!

Dass man sich bei einigen der publizierten Beiträge fragen muss, ob es tatsächlich nottat, diese nochmals zu veröffentlichen - geschenkt! Sei es dem antiquarischen Interesse mancher Wehler-Fans geschuldet, wirklich die gesammelten Werke letzter Hand des Bielefelder Großmeisters irgendwann beisammen zu haben (und seien sie noch so unbedeutend nach dem Datum ihres Erscheinens), sei es weil der Band voll werden musste, und Besseres noch nicht vorlag. Wehlers Rezensionen zu dickleibigen militärgeschichtlichen Publikationen, zu Conzes "Suche nach Sicherheit" oder auch seine Kritik an der Aufgabe des Frias durch die finanzierenden Institutionen mögen launig zu lesen sein, doch rechtfertigt dies nicht die Kodifizierung im Buch.

Die schwächeren Texte im Buch fallen aber gerade deshalb so negativ auf, weil es tatsächlich essayistische Glanzstücke enthält, die nicht nur nicht genug Leser haben können, sondern im Grunde jedem Studierenden der Geschichtswissenschaften ins Stammbuch geschrieben gehören: Die unterschwellige Botschaft der herausragenden Stücke des Bandes ist eindeutig: Lest, auch über die Grenzen des eigenen Faches hinaus! Möglichst viel und möglichst genau! Und zweitens: Nutzt das so erworbene Wissen nicht allein, um in eurem Fach zu glänzen, sondern als Hebel zur Kritik gegenwärtiger gesellschaftlicher Konstellationen und Strukturen!

Allen voran ist Wehler erneut ein großer Theoretiker und Kritiker gesellschaftlicher Ungleichheit - und in dieser Rolle mehr als überzeugend. Hier zeigt sich die große Stärke der Bielefelder Sozialgeschichtsschreibung: Dem postmodernen Gerede von sich verflüssigenden Grenzen zwischen Milieus, der Auflösung von Klassenstrukturen und der (schon seit den 1950er Jahren postulierten) Nivellierung hält Wehler mit nicht müde werdender Vehemenz die Beständigkeit von Klassen vor! Akribisch rechnet er die Einkommens- und insbesondere die Vermögensunterschiede zwischen ganz oben und ganz unten vor - die sich keinesfalls mit der Zeit 'nivellierten', sondern ganz im Gegenteil noch weiter wachsen.

Und auch an anderer Stelle, dem namengebenden Aufsatz des Sammelbandes, macht Wehler eindrücklich deutlich, was das Wissen um die Geschichte für die Gegenwart bedeuten kann. Gibt es einen deutschen Sonderweg des Kapitalismus? Wie sah der aus? Und warum wurde er durch das anglo-amerikanische Laissez-Faire des Neoliberalismus ersetzt? Die deutsche Tradition der staatlichen Einhegung des Kapitalismus vom Kameralismus bis zum Ordoliberalismus durchschreitet Wehler in einem wirtschaftstheoretischen Parforceritt. Gerade bei derart komplexen Zusammenhängen fällt auf, dass der Klappentext nicht übertreibt, wenn er Wehler als Essayisten "von Rang" kennzeichnet. Genau das ist er, und hier macht er deutlich warum: Pointierte Darstellung verbindet sich mit ungeheurer Belesenheit und Meinungsstärke und einem Quentchen Streitlust zu einem selten gewordenem Amalgam!

Ein wenig beruhigt dann auch die erneute Lektüre des Wehler'schen Eingreifens in die Sarrazin-Debatte: Wehler wird in der Nachbetrachtung häufig als Verteidiger Sarrazins beschrieben, umso erfreulicher ist aber nun nochmals lesen zu können, dass er dessen biologistische Thesen als genau das brandmarkt, was sie sind: Blanker, sich wissenschaftlich gerierender Blödsinn für eine von Abstiegsängsten geplagte Mittelschicht! Dass er versucht, die um diesen kruden Thesenhaufen enstandene Diskussion dazu zu nutzen, über Ungleichheit und Migration öffentlich debattieren zu wollen, kann ihm allerdings als problematische Annäherung an einen noch problematischeren Gewährsmann vorgeworfen werden.

Mit diesem letzen Ruf aus der Gruft macht Wehler nochmals deutlich, was die bundesrepublikanische Öffentlichkeit mit ihm verloren hat.

Montag, 4. August 2014

"Wenn man sich nicht von vornherein dagegen sperrt." Zu Helmuth Kiesels Lektüre von Hitlers "Mein Kampf"

Früher habe ich mir die Arbeitsteilung zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft immer so gedacht: Die LiteraturwissenschaftlerInnen dürfen die schönen Dinge lesen, wohingegen sich die Geschichtswissenschaft mit all dem auseinanderzusetzen hat, was übrigbleibt, was Aufschlüsse über die Funktionsweise von Gesellschaften gibt, was zur Legitimierung von politischen Entscheidungen diente und was in Ideologien wirksam wurde. Dass diese Form der separierten Sphären spätestens seit der Soziologisierung der Literaturwissenschaft (die damit nicht unbedeutend an Relevanz gewann) nicht mehr gilt, ist ebenso wichtig wie begrüßenswert. Zu welchen Folgen es aber führen kann, wenn Literaturwissenschaftler ihren angestammten Bereich der belles lettres verlassen und den Schuttabladeplatz der Literaturproduktion durchsuchen - und vor allem mit den ihr eigenen Methoden analysieren - macht Helmut Kiesel in der heutigen Ausgabe der FAZ deutlich.

Der Autor ist in den letzten Jahren durch seine notorischen Ehrenrettungsversuche für Ernst Jünger aufgefallen, dem er endlich die den flächendeckenden Durchbruch als Schriftsteller verschaffen will, nachdem Jünger selbst in seinem nicht enden wollenden Leben nicht viel mehr zustande gebracht hat, als zahlreiche Umarbeitungen immer desselben Kriegserlebnisses von 1914 bis 1918 mit allem was dazugehört: Blut, Gedärm, der Spaß am Töten und so weiter und so fort. Warum lässt man den über Hundertjährigen nicht endlich das werden, was er sein sollte? Eine Quelle dafür, wie der Erste Weltkrieg in den 1920er Jahren dafür verwendet wurde, den Zweiten vorzubereiten.

Nun geht Kiesel allerdings noch einen Schritt weiter und nimmt sich - uiuiuiu wie verboten - Hitlers "Mein Kampf" camoufliert "in das schwarz-goldene Hochglanzpapier eines Luxusuhrenmagazins" mit auf die Terrasse des Parks eines Ferienhotels und schmiert darin "mit einem moosgrünen Faber-Castell 8B" mit Germanisteneifer herum. Wofür soll man ihn nun mehr schelten? Für die Erwähnung des Luxusuhrenmagazins - die Breitling als letztes Spielzeug des Mannes, dem man die Waffe vorenthält? Für das geschickte Product Placement des Schreibgeräts als Signum der Kulturviertheit? Oder dafür, dass er uns HistorikerInnen vorwirft, das meist ungelesene Buch immer falsch gedeutet zu haben?

Denn - hört hört - Herr Kiesel besitzt ein schier unendliches Einfühlungsvermögen und vermag sich in den Kopf eines potentiellen Hitler-Verehrers hineinzudenken (vielleicht ist das nicht schwer für jemanden, der mehrere Bände Jünger ediert hat) und aus dessen Warte klingt das alles gar nicht mal so abgedroschen, was man bei Hitler zu lesen bekommt. Geschenkt, dem mag so sein, und wer die Geistesgeschichte der 1920er Jahre kennt, der weiß, dass man allenthalben ähnliche Kost zwischen zwei Buchdeckeln erwerben konnte. Dass das alles ungelesen blieb, kann wohl tatsächlich nur schwerlich behauptet werden.

Was folgt, ist eine mit dem propädeutischen Handwerkszeug des Literaturwissenschaftlers vollzogene Untersuchung des Buches mit dem verblüffenden Ergebnis: So schlecht ist es gar nicht...stilistisch gesehen. Auch wenn der Autor (immer niemand anderes als Hitler) sich in Sprachbildern verrenne - worauf es ankomme, sei doch die Wirkung, und auf die verstehe er sich. "Kein Stümper, sondern ein wirkungsbewusster Schreiber", das sei Hitler gewesen, und Kiesel hat es herausgefunden - Heureka!

Kann Kiesel nicht wie alle anderen im Urlaub irgendwelche Regionalkrimis, Herzschmerzgeschichten oder Fantasybücher lesen? Das hätte uns einiges an Ärger (und die Erkenntnis, dass Hitler in den Augen des Germanisten schreiben konnte) erspart. Am Ende geht Kiesel wieder versöhnlich auf die Historiker zu: Gerade weil Hitler so ein stilsicherer Autor war, sei die kommentierte Neuausgabe von "Mein Kampf" unbedingt notwendig, um durch geschickte Anmerkungen die Wirkungskraft des Buches zu unterminieren. 

Als hätten Kiesels kommentierten Jünger-Ausgaben die Anziehungskraft dieses rechten Klassikers abgebaut.