Im Grunde ist es ja nicht verwerflich, wenn sich auch HistorikerInnen politisch äußern; ja es ist geradezu geboten, dass vor allem sie sich in gesellschaftspolitische Debatten einmischen und mit ihrem spezifischen Wissen für die nötige (historische) Tiefendimension in tagesaktuellen Fragen sorgen.
Problematisch ist allerdings, wenn sie in ihren wissenschaftlichen Beiträgen politisch argumentieren, ohne ihren Standpunkt explizit zu machen. Wenn sie also ihre eigene politische Position quasi zu wissenschaftlichen Erkenntnissen aufwerten. Für den Rezensenten ganz besonders problematisch wird es dann, wenn der Autor auch noch eine von der eigenen divergente politische Position vertritt - und diese in immer neuen Anläufen breittritt.
Genau so ging es mir bei der Lektüre von Frank-Lothar Krolls Band zur "Geburt der Moderne", den der Autor selbst wohl als wissenschaftlich abgesicherte Verteidigung des Kaiserreichs verstanden wissen will. Anstatt sich lange mit diffizilen Begriffsfragen auseinanderzusetzen, zu denen schon die titelgebende 'Moderne' Anlass böte, geht Kroll direkt in medias res, arbeitet sich zuweilen rüpelhaft am selber nicht eben mit Samthandschuhen argumentierenden Hans-Ulrich Wehler ab (dem man zumindest nicht vorwerfen konnte, den Moderne-Begriff unreflektiert verwendet zu haben) und versucht dem Leser deutlich zu machen, warum es denn im Kaiserreich nicht gar so schlecht war, wie es uns die Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre glauben machen wollten.
Die Fragwürdigkeit dieses Unterfangens ergibt sich schon aus der Zäsursetzung; Explizit klammert der Autor den Ersten Weltkrieg aus seinen Betrachtungen aus, externalisiert das millionenfache Leid somit aus seiner Argumentation, auf dass es nicht das rosarote Bild des Wilhelminismus trübe.
Wo es nun aber partout nichts Positives an der Verfasstheit des Kaiserreichs zu finden gibt (so zum Beispiel beim preußischen Dreiklassenwahlrecht und den bewusst ungerecht zugeschnittenen Wahlkreisen) genügt sich Kroll mit dem Hinweis darauf, dass es anderswo nicht besser war - als machte es das besser.
In einer vollständigen Ausblendung der kulturgeschichtlichen Theoriebildung der letzten dreißig Jahre behandelt Kroll im Abschnitt zur Kultur nur Werke zur Hochkultur - von denen er selber eingestehen muss, dass sie zeitgenössisch nur äußerst marginal und nur in bestimmten Zirkeln wahrgenommen wurden. Dass Erzeugnisse der Arbeiterkultur im Vergleich zu den Sinfonien eines Schönberg heutzutage nicht die gleiche Wertschätzung erfahren, sollte den Autoren doch nicht daran hindern, an ihnen ebenfalls Elemente der Zeit herauszudestillieren, in der sie entstanden.
Ganz davon abgesehen, dass "Kultur" weit mehr umfasst als das, was man landläufig unter Kulturgütern (ob nun E- oder U-) versteht. Ein kulturgeschichtlicher Blick auf das Kaiserreich sollte nicht nur Hauptmann und Kadinsky, sondern auch Themen wie "Militarismus", "Antisemitismus" und "Antifeminismus" enthalten, um nur einige Aspekte zu nennen. Sie alle kommen nicht vor oder wenn, dann nur am Rande. Man ist geneigt, dem Autoren Absicht zu unterstellen, ließe sich doch unter Hinzuziehung von Chamberlain und Rembrandtdeutschen nur schwerlich das Bild eines weltoffenen und wissenschaftlich vorbildlichen Kaiserreichs aufrecht erhalten.
Warum es mir geht, ist gar nicht, die 'modernen' Elemente des Kaiserreichs zu negieren; was allerdings nicht angehen kann, ist der vollständige Ersatz der Fundamentalablehnung des Kaiserreichs durch eine kritiklose Apologie! Dass es auch differenzierter geht, beweisen Christopher Clarks Arbeiten. Die Frage ist nun nur noch, warum die Bundeszentrale für politische Bildung es für nötig befunden hat, Krolls fragwürdiges Buch in ihre Schriftenreihe aufzunehmen ...
Rezension zu: Frank-Lothar Kroll, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Bonn 2013 (BpB Schriftenreihe 1340)
Das muss man differenziert betrachten. Zeitgeschichtliche Forschungen und Reflexionen
Kommentare, Rezensionen, Ausstellungsbesprechungen und Tagungsberichte aus dem Bereich der ZEitgeschichte
Donnerstag, 27. August 2015
Das Kaiserreich rosarot. Franz-Lothar Krolls Apologie der deutschen Geschichte zwischen 1871 und 1914
Montag, 1. Dezember 2014
„Ein Selbstzwang, der sich als Freiheit ausgab.“ Zu Sven Reichardts monumentaler Studie „Authentizität und Gemeinschaft“.
Wenn eine Habilitationsschrift in der
renommierten Wissenschaftsreihe bei Suhrkamp erscheint, kann das zwei
Gründe haben. Zum einen wäre das sowohl die stilistische als auch
die akademische Brillanz des vorgelegten Werkes. Zum anderen wäre
diese Form der Adelung aber auch betriebswirtschaftlich zu erklären
– der Verlag ginge in diesem Fall davon aus, dass der
Personenkreis, der mit der inzwischen sprichwörtlichen
Suhrkamp-Kultur groß geworden ist, ein gesteigertes Interesse an
diesem Buch haben könnte. Letzteres trifft bei Reichardts Buch ohne
Zweifel zu, denn in seiner Studie geht es genau um sie (und auch das
Argument der herausragenden Qualität wird in weiten Teilen
eingelöst).
Worum geht es Reichardt also in dieser
fast tausendseitigen Schrift: Der Autor hat sich die
unterschiedlichsten Schattierungen des linksalternativen Lebens der
1970er und frühen 1980er Jahre vorgenommen und er fragt weniger nach
den allbekannten und politikgeschichtlich schon recht gut erforschten
politischen Zielen der Gruppierungen, wie sie sich in Anti-AKW-,
Friedens- und Frauenbewegung ausdrückten. Reichardt verlässt die
eingefahrenen Bahnen politikgeschichlicher Forschung (die neben
wirtschaftsgeschichtlichen Fragen) noch immer die Erforschung der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominieren – und das zurecht,
ging es doch zunächst darum, die groben Linien dieser Epoche zu
vermessen, bevor ausgehend von den entsprechenden Befunden auch
anderen Themen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Reichardt
geht nun der Frage nach, wie die Personen lebten, die sich in
Brokdorf auf Demonstrationen gegen die Atomindustrie, in Bonn gegen
die NATO-Nachrüstung oder überall gegen die männliche
Vorherrschaft in Familien und Arbeitsleben engagierten. Wie
gestalteten sie ihren Alltag? Wie lebten sie? Wie arbeiteten sie? Und
vor allem: Wie sprachen sie darüber?
Äußerst überzeugend wählt Reichardt
die beiden Begriffe „Authentizität“ und „Gemeinschaft“, um
sich sowohl die Lebensstile als auch Fraktionierungen innerhalb des
linksalternativen Milieus zu erschließen. In unterschiedlichen
Themenfeldern – von der linksalternativen Presse über
Wohngemeinschaften bis hin zu Frauen- (und Männer-)bewegung,
Kindererziehung, alternativen Betrieben, Spiritualität und
Drogenerfahrungen – sucht Reichardt nach der Einforderung von
authentischen Erfahrungen, Arbeitsverhältnissen, Beziehungen, die
den Zwängen der als entfremdet wahrgenommenen bundesrepublikanischen
Gesellschaft mit ihrem Streben nach Konsum und Karriere
entgegengehalten wurden.
Von K-Gruppen und Resten der 68er als
unpolitische Privatiers geschmäht, sahen die Angehörigen des
alternativen in dem, was sie taten, doch eine neue Form des
Politischen, so Reichardt. Überzeugend argumentiert Reichardt, dass
mit diesem neuen Lebensstil jedoch keineswegs das Ende aller Zwänge
eingeläutet wurde – vielmehr wurden neue Zwänge aufgebaut, die
oftmals unbewusst eine enorme Wirkmächtigkeit entfalteten. Allen
voran, der Zwang zur allgegenwärtigen Selbstoffenbarung, zur
Öffentlichmachung privatester Details unter der Maßgabe: „Sei
authentisch!“
Kritisch anzumerken wären bei
Reichardts Studie einige Redundanzen, die sich wohl vor allem daraus
ergeben, dass sich die unterschiedlichen Kapitel auch separat lesen
lassen können sollen, während die behandelten Themen jedoch nicht
immer trennscharf zu scheiden sind. Man kann sich jedenfalls gut
vorstellen, dass sich an den unterschiedlichsten Universitäten in
Seminaren zu den 1970er und 1980er neben der thesenhaft zuspitzenden
Studie von Doering-Manteuffel und Raphael („Nach dem Boom“)
Studierende auch mit einzelnen Kapiteln aus Reichardts Studie
beschäftigen werden – und für einen derartigen Kontext eignen
sich die Kapitel sicher ganz hervorragend. Noch problematischer
erscheint mir allerdings der Umstand, dass das von Reichardt (sicher
zurecht) als bunt beschrieben Milieu in der wissenschaftlichen
Bearbeitung ganz ohne Bildteil auskommen muss. Ein paar wenige Fotos
aus selbstverwalteten alternativen Betrieben oder Wohngemeinschaften,
nur wenige Reproduktionen aus der von Reichardt so überzeugend
beschriebenen alternativen Presse, und schon wäre die Studie noch
anschaulicher geworden, als sie es ohnehin schon – trotz ihres
wissenschaftlichen Niveaus und ihres beträchtlichen Umfangs – ist!
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Dienstag, 16. September 2014
Quo Vadis NS-Forschung: Volksgemeinschaft, Hitlermythos oder doch "fatale Attraktion"?
Thomas Rohkrämer macht mit seinem neuen Buch über die "fatale Attraktion des Nationalsozialismus" eines deutlich - wie man trotz einer wichtigen und interessanten Fragestellung ein Buch schreiben kann, dessen es nicht bedurft hätte. Liegt es daran, dass der Autor mit einer schier nervtötenden Penetranz seine eigene Wortschöpfung immer wieder auftischt, auf dass man sie dann auf jeden Fall bei nächstmöglicher zitieren möge. (Dass sie dazu noch grammatikalisch windschief ist, geht es doch Rohkrämer mehr um "fatale Attraktivität" des Nationalsozialismus und nicht um "Attraktionen", sei nur am Rande bemerkt.); sei es, dass er trotz dieser neuerlichen Begrifflichkeit nichts Neues zu sagen weiß - in jedem Fall fragt man sich schon, ob es dieser gut 330 Textseiten bedurft hätte, welchen Erkenntnisgewinn man bei sich selbst verzeichnen kann und was nun genau Rohkrämers Thesen sind, die die historische Forschung zum Nationalsozialismus voranbringen sollen.
Dieser unbefriedigende Eindruck ergibt sich vor allem daraus, dass Rohkrämer zwar in guter wissenschaftlicher Manier in der Einleitung die Studien und Forschungsrichtungen zum Nationalsozialismus benennt, von denen er sich mit seiner eigenen Arbeit abzusetzen gedenkt - was dann im Hauptteil folgt, ist allerdings nichts anderes als die wenig inspirierte Wiedergabe eben genau dieser Arbeiten (zuweilen noch in nervtötend flapsiger Sprache, in der aus "Villen" "Villas" werden und immerzu "gemeckert" wird, als gäbe es dafür kein weniger umgangssprachliches Wort).
Alys Ansatz sei zu materialistisch, Kershaw beziehe sich zu ausschließlich auf Hitler und den um ihn herum konstruierten Mythos und auch die augenblicklich florierende Volksgemeinschaftsforschung (deren innovatives Potential durchaus auch in vielen Punkten fraglich ist) reicht Rohkrämer ebenfalls nicht - so liest sich jedenfalls seine Einleitung. Und was bekommen wir dann zu lesen? Eine Kurzfassung der Forschungen Kershaws; einen Überblick über die materiellen Versprechen an die "Volksgenossen"; Darstellungen über die freudige Einpassung in die "Volksgemeinschaft", die nicht nur Versprechungen macht, sondern auch Forderungen an den einzelnen stellt. Alles abgeschmeckt mit ein wenig Benjamin und dessen (durchaus überzeugender) These von der "Ästhetisierung der Politik", die im Nationalsozialismus neue Früchte getragen hat. Auch das ist nicht neu, den "schönen Schein" des Nationalsozialismus haben uns schon andere hinter dem dunklen Schleier der Massenverbrechen hervorgeholt.
Um positiv zu schließen, kann man Rohkrämer attestieren, eine flüssig geschriebene Zusammenfassung der Forschungen zum Nationalsozialismus als "Zustimmungsdiktatur" geliefert zu haben - mehr nicht. Dies ist durchaus einen anerkennenswerte Leistung, wenn nicht die Versprechungen in der Einleitung auf mehr hindeuteten. Dass darüber hinaus die Quellenauswahl wenig innovativ ist - von Tagebuchaufzeichnungen über Memoiren bis hin zu den Abhörprotokollen, die von Neitzel und Welzer analysiert wurden, alles nur immer wieder zitiertes und bekanntes Material -, fügt sich ins insgesamt wenig überzeugende Gesamtbild.
Rezension zu: Thomas Rohkrämer, Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus. Über die Popularität eines Unrechtsregimes, Paderborn 2013.
Dieser unbefriedigende Eindruck ergibt sich vor allem daraus, dass Rohkrämer zwar in guter wissenschaftlicher Manier in der Einleitung die Studien und Forschungsrichtungen zum Nationalsozialismus benennt, von denen er sich mit seiner eigenen Arbeit abzusetzen gedenkt - was dann im Hauptteil folgt, ist allerdings nichts anderes als die wenig inspirierte Wiedergabe eben genau dieser Arbeiten (zuweilen noch in nervtötend flapsiger Sprache, in der aus "Villen" "Villas" werden und immerzu "gemeckert" wird, als gäbe es dafür kein weniger umgangssprachliches Wort).
Alys Ansatz sei zu materialistisch, Kershaw beziehe sich zu ausschließlich auf Hitler und den um ihn herum konstruierten Mythos und auch die augenblicklich florierende Volksgemeinschaftsforschung (deren innovatives Potential durchaus auch in vielen Punkten fraglich ist) reicht Rohkrämer ebenfalls nicht - so liest sich jedenfalls seine Einleitung. Und was bekommen wir dann zu lesen? Eine Kurzfassung der Forschungen Kershaws; einen Überblick über die materiellen Versprechen an die "Volksgenossen"; Darstellungen über die freudige Einpassung in die "Volksgemeinschaft", die nicht nur Versprechungen macht, sondern auch Forderungen an den einzelnen stellt. Alles abgeschmeckt mit ein wenig Benjamin und dessen (durchaus überzeugender) These von der "Ästhetisierung der Politik", die im Nationalsozialismus neue Früchte getragen hat. Auch das ist nicht neu, den "schönen Schein" des Nationalsozialismus haben uns schon andere hinter dem dunklen Schleier der Massenverbrechen hervorgeholt.
Um positiv zu schließen, kann man Rohkrämer attestieren, eine flüssig geschriebene Zusammenfassung der Forschungen zum Nationalsozialismus als "Zustimmungsdiktatur" geliefert zu haben - mehr nicht. Dies ist durchaus einen anerkennenswerte Leistung, wenn nicht die Versprechungen in der Einleitung auf mehr hindeuteten. Dass darüber hinaus die Quellenauswahl wenig innovativ ist - von Tagebuchaufzeichnungen über Memoiren bis hin zu den Abhörprotokollen, die von Neitzel und Welzer analysiert wurden, alles nur immer wieder zitiertes und bekanntes Material -, fügt sich ins insgesamt wenig überzeugende Gesamtbild.
Rezension zu: Thomas Rohkrämer, Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus. Über die Popularität eines Unrechtsregimes, Paderborn 2013.
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Samstag, 6. September 2014
"Der Keim der wahren Freiheit, gedeiht in Unfreiheit." Lutz Seiler hat mit seinem Roman "Kruso" den wohl bedeutendsten literarischen Beitrag zum Ende der DDR geschrieben
Sucht das Feuilleton noch immer den
Roman zum Ende der DDR? Die Suche hat in diesem Herbst, 25 Jahre nach
Öffnung der Grenzen, ein Ende. Lutz Seilers „Kruso“ ist die wohl
beste bislang erschienene Annäherung an die Geschehnisse im Jahr
1989.
Weniger das inzwischen sprichwörtliche
Leben der Anderen, sondern ein anderes Leben, das richtige Leben im
falschen, die Freiheit in der Unfreiheit sind Seilers Themen.
Geschickt siedelt er seine (autobiographisch gefärbte) Geschichte im
äußersten Randgebiet der DDR an, auf dem kleinen Raum der
Ferieninsel Hiddensee suchen seine Akteure die Freiheit – und
werden von der Grenzöffnung überrascht.
Die Insel wird im Roman zur Metapher;
jeder sucht sich seine Enklave möglichst großer Freiheit. Die
historisch belegten Einquartierungen von Besuchern auf der Insel, die
der Enge der DDR entkommen wollten, werden mit esoterisch anmutenden
Initiationsriten versehen und so zum Eingangstor in eine andere Welt.
Das Leben der Hauptfigur Edgar Bendler,
dessen Freundin von einer Straßenbahn überfahren wurde, gerät aus
den Fugen. Statt der vielversprechenden Fortsetzung des
Germanistikstudiums findet sich Edgar (genannt Ed) mittellos auf
Hiddensee wieder, der Insel, deren Namen den namensgebenden
Protagonisten Krusowitsch (genannt Kruso) zu allerlei Wortspielen
einlädt, bedeute „hidden“ doch im Englischen versteckt. Ed wird
Abwäscher in einer Ausflugsgaststätte, taucht immer weiter in die
Geheimnisse der Insel ein, erlebt das Ankommen und Abreisen von neuen
Besuchern, die auch für Ed amourös-existentielle Abenteuer
bereithalten, und freundet sich mit Kruso an.
Wir schreiben das Jahr 1989, die
Massenfluchten, über die der Deutschlandfunk im immer laufenden
Küchenradio berichtet, hinterlassen auch ihre Spuren auf Hiddensee.
Die „Besatzung“ schrumpft, immer mehr Mitarbeiter aus der
Gaststätte entschließen sich zur Flucht über das Meer bis auf das
dänische Festland – und nicht alle schaffen diese gefährliche
Reise.
Die Idee, die Freiheit vor Ort zu
ermöglichen, scheitert, die Verlockungen des Westens sind zu stark.
Seilers Roman bezieht seine Stärke zunächst aus dem Raum, in dem er
angesiedelt ist: Hiddensee, nicht mehr ganz DDR (trotz Grenztruppen
und „Hygieneinspektoren“ mit verdächtigen
Staatssicherheitsallüren), aber noch nicht Westen, so liegt die
Insel im Zwischenraum – in dem Zwischenraum, in dem die von Kruso
so viel gepriesene Freiheit zu finden ist. In magisch-realistischem
Stil (als letzter Abgesang auf den realsozialistischen Realismus der
Literatur der DDR?) beschreibt Seiler diese Exterritorialität als
Möglichkeit, sich zumindest den Sommer über, frei zu fühlen und
frei zu leben. Diese Suche nach etwas Anderem, nach dem anderen Leben
jenseits von staatlicher Gängelung und kapitalistischer Verführung
gibt Seiler in seinem Roman Raum. Eine Suche, die durch die
Wiedervereinigung jäh unterbrochen wurde und an die zum Ende hin
sowieso nur noch der daran psychisch zugrunde gehende Kruso und Ed
geglaubt zu haben scheinen.
Seiler schließt mit einem Epilog, in der die Suche weitergeht. Die DDR ist inzwischen - sinnbidlich - untergegangen, Ed hingegen lässt der Gedanke an die bei ihren Fluchtversuchen ums Leben gekommenen Flüchtlinge nicht los und beginnt die Recherche; allein für diese letzten dreißig Seiten lohnt die Lektüre des Buches, gehen sie doch in einem mehr als überzeugten Reportage-Stil den Versäumnissen der wiedervereinigten Erinnerungskultur in Bezug auf diese Opfergruppe mehr als überzeugend nach.
Die Homepage des Suhrkamp-Verlages zum Roman
Die Homepage des Suhrkamp-Verlages zum Roman
Freitag, 5. September 2014
Kindliche Perspektiven auf die Grausamkeit des Krieges. Eine Ausstellung in der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße zu polnischen Kinderzeichnungen aus dem Jahr 1946
Wesen ohne Hals und ohne Unterkörper,
dafür mit direkt am Brustkorb ansetzenden Beinen und langen Armen –
und Mützen, auf denen ein Hakenkreuz zu sehen ist. Eckige Häuser,
denen wild lodernde Flammen aus dem Dach steigen, gezeichnet mit
Buntstift und roter Tinte. Davor stilisierte Figuren, zeichnerisch
zwischen Strichmännchen und einem altersgerechten Realismus
angesiedelt.
Wenn Kinder den Krieg sehen und anschließend zeichnen – was kommt dabei heraus? Die Ausstellung „Kinder im Krieg. Polen 1939 – 1945“, die in der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße in Braunschweig gezeigt wird, versucht Anworten auf diese Frage zu geben. Oder besser: Polnische Kinder, 1946 durch ein Preisausschreiben einer Zeitung dazu animiert, geben die Antwort selbst, der Gedenkstätte kommt nur das Verdienst zu, diese Quellen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und sie sind es wert, von möglichst vielen Personen gesehen zu werden: nicht nur ihre relative Unbekanntheit (zumindest in Deutschland, in Polen werden sie wohl schon häufiger als Quellen für die historische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg verwendet), sondern auch die kindlich-künstlerische Verarbeitung des Krieges in diesen Bildern machen diese (zugegeben) eher kleine Ausstellung mehr als sehenwert.
Die begleitenden Texte sind auf das
Notwendigste beschränkt, die Bilder sollen gleichsam für sich
selbst sprechen – und das tun sie. Kurze Hintergrundinformationen
zur brutalen deutschen Besatzungspolitik machen deutlich, dass die
grausam-grotesken Szenen keineswegs der infantilen Phantasie mit
ihrer Vorliebe für brutal-drastische Darstellungen entsprungen sind.
Mit den Mitteln des schulischen Kunstunterricht versuchen Kinder (zum
Teil noch Erstklässler) auf ihre Art ihren Erlebnissen einen (im
kunstgeschichtlichen Sinne) realistischen Ausdruck zu geben. Dass
diese Bilder dann eher an die Werke eines George Grosz erinnern als
an gegenwärtige Kinderzeichnungen mit einladenden Spitzgiebelhäusern
und lachenden Sonnen, ist dem Erfahrungshintergrund der jungen
Künstler geschuldet. (Und belegt dialektisch betrachtet wieder
einmal, dass George Grosz einer der größten realistischen Maler des
20. Jahrhunderts war, und das gerade weil er die Welt nicht malte,
wie sie aussah, sondern wie sie war!)
Nach den traumatischen Erfahrungen der
hier ausgestellten Kinder verwundert es nicht, dass das Material auch
polnischen Psychologen dabei helfen sollte, mit den Kindern zu
arbeiten, um ihnen so ein möglichst normales Leben nach dem Krieg zu
ermöglichen. Und hier beginnt auch schon die mehr als spannende
Nachgeschichte der Quellen, die die Kuratorin der Ausstellung, Iris
Helbing, in ihren einleitenden Worten deutlich machte: Nachdem
tausenden von Zeichnungen bei der Zeitung eingegangen waren, ja
nachdem selbst ganze Klassen dazu ermuntert worden waren, ihre
Erfahrungen zeichnerisch zu Papier zu bringen, wanderte ein Großteil
der Bilder in ein polnisches Archiv. 100 von ihnen allerdings kamen,
als Dankeschön für die tatkräftige Unterstützung, zu einem Helfer
nach Dänemark und wurden nach dessen Tod der polnischen Botschaft in
Kopenhagen übergeben – genau die Bilder sind es nun, aus denen die
Ausstellung eine Auswahl präsentiert.
Zum Abschluss noch ein paar
geschichtsdidaktische Überlegungen: Von der Kuratorin wurde immer
wieder darauf hingewiesen, dass die Ausstellung besonders für
Schulklassen geeignet sei, um sich über die Zeichnungen vermittelt
einen Zugang zum Thema Zweiter Weltkrieg zu ermöglichen. Die
Grundannahme dabei: Schüler könnten sich eher mit Quellen
identifizieren, die von Personen ihres Alters produziert worden
seien. Aber ist das wirklich so? Mir scheint das eine noch immer zu
wenig untermauerte Annahme vieler geschichtsdidaktischer Projekte
sowohl des schulischen Unterrichts als auch außerschulischer
Lernorte zu sein. Hier sollten empirische Studien klären, ob es
tatsächlich der Fall ist. Und zweitens sollte gefragte werden, ob
Identifikation überhaupt das Ziel sein kann …
Informationen der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße zur Ausstellung
Sonntag, 31. August 2014
Ruf aus der Gruft. Zu Hans-Ulrich Wehlers Essayband "Die Deutschen und der Kapitalismus"
Seinem Freund und Generationsgenossen Habermas entsprechend, der mit seinen immer wieder in Buchform zusammengefassten "Kleinen Schriften" kürzere Beiträge zum Zeitgeschehen publiziert, ist es auch bei Wehler gute Tradition, dass seine verstreut erschienenen Beiträge in regelmäßigen Abständen gebündelt erscheinen. Was der C.H.-Beck-Verlag in Wehlers Todesjahr nun publiziert ist Wehler at his best - und at his worst!
Dass man sich bei einigen der publizierten Beiträge fragen muss, ob es tatsächlich nottat, diese nochmals zu veröffentlichen - geschenkt! Sei es dem antiquarischen Interesse mancher Wehler-Fans geschuldet, wirklich die gesammelten Werke letzter Hand des Bielefelder Großmeisters irgendwann beisammen zu haben (und seien sie noch so unbedeutend nach dem Datum ihres Erscheinens), sei es weil der Band voll werden musste, und Besseres noch nicht vorlag. Wehlers Rezensionen zu dickleibigen militärgeschichtlichen Publikationen, zu Conzes "Suche nach Sicherheit" oder auch seine Kritik an der Aufgabe des Frias durch die finanzierenden Institutionen mögen launig zu lesen sein, doch rechtfertigt dies nicht die Kodifizierung im Buch.
Die schwächeren Texte im Buch fallen aber gerade deshalb so negativ auf, weil es tatsächlich essayistische Glanzstücke enthält, die nicht nur nicht genug Leser haben können, sondern im Grunde jedem Studierenden der Geschichtswissenschaften ins Stammbuch geschrieben gehören: Die unterschwellige Botschaft der herausragenden Stücke des Bandes ist eindeutig: Lest, auch über die Grenzen des eigenen Faches hinaus! Möglichst viel und möglichst genau! Und zweitens: Nutzt das so erworbene Wissen nicht allein, um in eurem Fach zu glänzen, sondern als Hebel zur Kritik gegenwärtiger gesellschaftlicher Konstellationen und Strukturen!
Allen voran ist Wehler erneut ein großer Theoretiker und Kritiker gesellschaftlicher Ungleichheit - und in dieser Rolle mehr als überzeugend. Hier zeigt sich die große Stärke der Bielefelder Sozialgeschichtsschreibung: Dem postmodernen Gerede von sich verflüssigenden Grenzen zwischen Milieus, der Auflösung von Klassenstrukturen und der (schon seit den 1950er Jahren postulierten) Nivellierung hält Wehler mit nicht müde werdender Vehemenz die Beständigkeit von Klassen vor! Akribisch rechnet er die Einkommens- und insbesondere die Vermögensunterschiede zwischen ganz oben und ganz unten vor - die sich keinesfalls mit der Zeit 'nivellierten', sondern ganz im Gegenteil noch weiter wachsen.
Und auch an anderer Stelle, dem namengebenden Aufsatz des Sammelbandes, macht Wehler eindrücklich deutlich, was das Wissen um die Geschichte für die Gegenwart bedeuten kann. Gibt es einen deutschen Sonderweg des Kapitalismus? Wie sah der aus? Und warum wurde er durch das anglo-amerikanische Laissez-Faire des Neoliberalismus ersetzt? Die deutsche Tradition der staatlichen Einhegung des Kapitalismus vom Kameralismus bis zum Ordoliberalismus durchschreitet Wehler in einem wirtschaftstheoretischen Parforceritt. Gerade bei derart komplexen Zusammenhängen fällt auf, dass der Klappentext nicht übertreibt, wenn er Wehler als Essayisten "von Rang" kennzeichnet. Genau das ist er, und hier macht er deutlich warum: Pointierte Darstellung verbindet sich mit ungeheurer Belesenheit und Meinungsstärke und einem Quentchen Streitlust zu einem selten gewordenem Amalgam!
Ein wenig beruhigt dann auch die erneute Lektüre des Wehler'schen Eingreifens in die Sarrazin-Debatte: Wehler wird in der Nachbetrachtung häufig als Verteidiger Sarrazins beschrieben, umso erfreulicher ist aber nun nochmals lesen zu können, dass er dessen biologistische Thesen als genau das brandmarkt, was sie sind: Blanker, sich wissenschaftlich gerierender Blödsinn für eine von Abstiegsängsten geplagte Mittelschicht! Dass er versucht, die um diesen kruden Thesenhaufen enstandene Diskussion dazu zu nutzen, über Ungleichheit und Migration öffentlich debattieren zu wollen, kann ihm allerdings als problematische Annäherung an einen noch problematischeren Gewährsmann vorgeworfen werden.
Mit diesem letzen Ruf aus der Gruft macht Wehler nochmals deutlich, was die bundesrepublikanische Öffentlichkeit mit ihm verloren hat.
Dass man sich bei einigen der publizierten Beiträge fragen muss, ob es tatsächlich nottat, diese nochmals zu veröffentlichen - geschenkt! Sei es dem antiquarischen Interesse mancher Wehler-Fans geschuldet, wirklich die gesammelten Werke letzter Hand des Bielefelder Großmeisters irgendwann beisammen zu haben (und seien sie noch so unbedeutend nach dem Datum ihres Erscheinens), sei es weil der Band voll werden musste, und Besseres noch nicht vorlag. Wehlers Rezensionen zu dickleibigen militärgeschichtlichen Publikationen, zu Conzes "Suche nach Sicherheit" oder auch seine Kritik an der Aufgabe des Frias durch die finanzierenden Institutionen mögen launig zu lesen sein, doch rechtfertigt dies nicht die Kodifizierung im Buch.
Die schwächeren Texte im Buch fallen aber gerade deshalb so negativ auf, weil es tatsächlich essayistische Glanzstücke enthält, die nicht nur nicht genug Leser haben können, sondern im Grunde jedem Studierenden der Geschichtswissenschaften ins Stammbuch geschrieben gehören: Die unterschwellige Botschaft der herausragenden Stücke des Bandes ist eindeutig: Lest, auch über die Grenzen des eigenen Faches hinaus! Möglichst viel und möglichst genau! Und zweitens: Nutzt das so erworbene Wissen nicht allein, um in eurem Fach zu glänzen, sondern als Hebel zur Kritik gegenwärtiger gesellschaftlicher Konstellationen und Strukturen!
Allen voran ist Wehler erneut ein großer Theoretiker und Kritiker gesellschaftlicher Ungleichheit - und in dieser Rolle mehr als überzeugend. Hier zeigt sich die große Stärke der Bielefelder Sozialgeschichtsschreibung: Dem postmodernen Gerede von sich verflüssigenden Grenzen zwischen Milieus, der Auflösung von Klassenstrukturen und der (schon seit den 1950er Jahren postulierten) Nivellierung hält Wehler mit nicht müde werdender Vehemenz die Beständigkeit von Klassen vor! Akribisch rechnet er die Einkommens- und insbesondere die Vermögensunterschiede zwischen ganz oben und ganz unten vor - die sich keinesfalls mit der Zeit 'nivellierten', sondern ganz im Gegenteil noch weiter wachsen.
Und auch an anderer Stelle, dem namengebenden Aufsatz des Sammelbandes, macht Wehler eindrücklich deutlich, was das Wissen um die Geschichte für die Gegenwart bedeuten kann. Gibt es einen deutschen Sonderweg des Kapitalismus? Wie sah der aus? Und warum wurde er durch das anglo-amerikanische Laissez-Faire des Neoliberalismus ersetzt? Die deutsche Tradition der staatlichen Einhegung des Kapitalismus vom Kameralismus bis zum Ordoliberalismus durchschreitet Wehler in einem wirtschaftstheoretischen Parforceritt. Gerade bei derart komplexen Zusammenhängen fällt auf, dass der Klappentext nicht übertreibt, wenn er Wehler als Essayisten "von Rang" kennzeichnet. Genau das ist er, und hier macht er deutlich warum: Pointierte Darstellung verbindet sich mit ungeheurer Belesenheit und Meinungsstärke und einem Quentchen Streitlust zu einem selten gewordenem Amalgam!
Ein wenig beruhigt dann auch die erneute Lektüre des Wehler'schen Eingreifens in die Sarrazin-Debatte: Wehler wird in der Nachbetrachtung häufig als Verteidiger Sarrazins beschrieben, umso erfreulicher ist aber nun nochmals lesen zu können, dass er dessen biologistische Thesen als genau das brandmarkt, was sie sind: Blanker, sich wissenschaftlich gerierender Blödsinn für eine von Abstiegsängsten geplagte Mittelschicht! Dass er versucht, die um diesen kruden Thesenhaufen enstandene Diskussion dazu zu nutzen, über Ungleichheit und Migration öffentlich debattieren zu wollen, kann ihm allerdings als problematische Annäherung an einen noch problematischeren Gewährsmann vorgeworfen werden.
Mit diesem letzen Ruf aus der Gruft macht Wehler nochmals deutlich, was die bundesrepublikanische Öffentlichkeit mit ihm verloren hat.
Montag, 4. August 2014
"Wenn man sich nicht von vornherein dagegen sperrt." Zu Helmuth Kiesels Lektüre von Hitlers "Mein Kampf"
Früher habe ich mir die Arbeitsteilung zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft immer so gedacht: Die LiteraturwissenschaftlerInnen dürfen die schönen Dinge lesen, wohingegen sich die Geschichtswissenschaft mit all dem auseinanderzusetzen hat, was übrigbleibt, was Aufschlüsse über die Funktionsweise von Gesellschaften gibt, was zur Legitimierung von politischen Entscheidungen diente und was in Ideologien wirksam wurde. Dass diese Form der separierten Sphären spätestens seit der Soziologisierung der Literaturwissenschaft (die damit nicht unbedeutend an Relevanz gewann) nicht mehr gilt, ist ebenso wichtig wie begrüßenswert. Zu welchen Folgen es aber führen kann, wenn Literaturwissenschaftler ihren angestammten Bereich der belles lettres verlassen und den Schuttabladeplatz der Literaturproduktion durchsuchen - und vor allem mit den ihr eigenen Methoden analysieren - macht Helmut Kiesel in der heutigen Ausgabe der FAZ deutlich.
Der Autor ist in den letzten Jahren durch seine notorischen Ehrenrettungsversuche für Ernst Jünger aufgefallen, dem er endlich die den flächendeckenden Durchbruch als Schriftsteller verschaffen will, nachdem Jünger selbst in seinem nicht enden wollenden Leben nicht viel mehr zustande gebracht hat, als zahlreiche Umarbeitungen immer desselben Kriegserlebnisses von 1914 bis 1918 mit allem was dazugehört: Blut, Gedärm, der Spaß am Töten und so weiter und so fort. Warum lässt man den über Hundertjährigen nicht endlich das werden, was er sein sollte? Eine Quelle dafür, wie der Erste Weltkrieg in den 1920er Jahren dafür verwendet wurde, den Zweiten vorzubereiten.
Nun geht Kiesel allerdings noch einen Schritt weiter und nimmt sich - uiuiuiu wie verboten - Hitlers "Mein Kampf" camoufliert "in das schwarz-goldene Hochglanzpapier eines Luxusuhrenmagazins" mit auf die Terrasse des Parks eines Ferienhotels und schmiert darin "mit einem moosgrünen Faber-Castell 8B" mit Germanisteneifer herum. Wofür soll man ihn nun mehr schelten? Für die Erwähnung des Luxusuhrenmagazins - die Breitling als letztes Spielzeug des Mannes, dem man die Waffe vorenthält? Für das geschickte Product Placement des Schreibgeräts als Signum der Kulturviertheit? Oder dafür, dass er uns HistorikerInnen vorwirft, das meist ungelesene Buch immer falsch gedeutet zu haben?
Denn - hört hört - Herr Kiesel besitzt ein schier unendliches Einfühlungsvermögen und vermag sich in den Kopf eines potentiellen Hitler-Verehrers hineinzudenken (vielleicht ist das nicht schwer für jemanden, der mehrere Bände Jünger ediert hat) und aus dessen Warte klingt das alles gar nicht mal so abgedroschen, was man bei Hitler zu lesen bekommt. Geschenkt, dem mag so sein, und wer die Geistesgeschichte der 1920er Jahre kennt, der weiß, dass man allenthalben ähnliche Kost zwischen zwei Buchdeckeln erwerben konnte. Dass das alles ungelesen blieb, kann wohl tatsächlich nur schwerlich behauptet werden.
Was folgt, ist eine mit dem propädeutischen Handwerkszeug des Literaturwissenschaftlers vollzogene Untersuchung des Buches mit dem verblüffenden Ergebnis: So schlecht ist es gar nicht...stilistisch gesehen. Auch wenn der Autor (immer niemand anderes als Hitler) sich in Sprachbildern verrenne - worauf es ankomme, sei doch die Wirkung, und auf die verstehe er sich. "Kein Stümper, sondern ein wirkungsbewusster Schreiber", das sei Hitler gewesen, und Kiesel hat es herausgefunden - Heureka!
Kann Kiesel nicht wie alle anderen im Urlaub irgendwelche Regionalkrimis, Herzschmerzgeschichten oder Fantasybücher lesen? Das hätte uns einiges an Ärger (und die Erkenntnis, dass Hitler in den Augen des Germanisten schreiben konnte) erspart. Am Ende geht Kiesel wieder versöhnlich auf die Historiker zu: Gerade weil Hitler so ein stilsicherer Autor war, sei die kommentierte Neuausgabe von "Mein Kampf" unbedingt notwendig, um durch geschickte Anmerkungen die Wirkungskraft des Buches zu unterminieren.
Als hätten Kiesels kommentierten Jünger-Ausgaben die Anziehungskraft dieses rechten Klassikers abgebaut.
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