Sonntag, 28. Juli 2013

Cold War revisited: Georg Schilds Studie zum gefährlichen Jahr 1983

Um nichts weniger als um eine generelle Akzentverschiebung in der zeitgeschichtlichen Betrachtung des Kalten Krieges geht es dem Tübinger Zeithistoriker und Amerikaspezialisten Georg Schild in seinem neuen Band zum Jahr 1983. Die Grundthese der Studie ist dabei schnell referiert und sie steht auch schon im Titel: Nicht die sonst häufig in den Blick genommenen Ereignisse - der Korea-Krieg und die Berlin-Blockade, der Mauerbau und die Kubakrise - seien die eigentlich gefahrenträchtigen Situationen des Kalten Krieges gewesen. Nein, 1983 war - so Schild - das "gefährlichste Jahr des Kalten Krieges."

Pünktlich zum 26.09.2013, dem 30jährigen Jubiläum der Verhinderung eines Atomkriegs durch die besonnene Reaktion des Offiziers Petrows, der die computergenerierte Warnung vor einem amerikanischen Angriff als das ansah, was sie war - ein Fehlalarm -, erscheint Schilds Buch, das ihm so sicher die jahrestagsübliche Popularität bescheren wird. Doch auch abgesehen davon ist Schilds lesenswert für jeden, der sich für die Geschichte des Kalten Krieges interessiert - ist die Studie doch im besten Sinne "thought provoking".

Worum es dem Autoren geht, wird schnell deutlich: Während die Konflikte vor den 1980er Jahren allesamt auf einer Grundlage erfolgten, in der beide Supermächte keine Eskalation wollten und auch von der jeweils anderen Seite wussten, dass sie ebenfalls nicht auf einen Krieg hinarbeite, ging diese Sicherheit in den 1980er Jahren verloren: So sahen die US-Amerikaner im sowjetischen Einmarsch in Afghanistan einen expansionistischen Akt, wohingegen die sowjetische Führung ihn nur als defensiven Versuch zur Eindämmung des politischen Islams sah (und auch nicht verstehen konnte, wie die USA daraus ein Bedrohungspotential ableiten konnte).

Eine ähnliche Entwicklung (freilich mit veränderten Vorzeichen) beobachtet Schild für die amerikanische Raketenabwehrtechnologie SDI: Die us-amerikanische Administration unter Reagan beschrieb eine derartige Technik als defensive Maßnahme gegen einen eventuellen Erstschlag der Sowjetunion; diese wiederum vermochte darin nichts anderes zu erkennen als die Vorbereitung eines amerikanischen Erstschlags auf Ziele in der Sowjetunion, der so massiv erfolgen würde, dass die nicht durch die Raketen ausgeschalteten sowjetischen Zweitschlagswaffen durch das neue Abwehrsystem abgefangen würden - ein Atomkrieg erschien so führ- und auch gewinnbar; eine gänzliche Neuerung im Vergleich zur vorher geltenden Logik der Mutual Assured Destruction.

Die zunehmende Unsicherheit über die Ziele des jeweiligen Kontrahenten führte laut Schild nun dazu, dass zum ersten Mal der Kalte Krieg wirklich Gefahr lief, ein heißer zu werden. Nicht mehr Rationalität und Verhandlung, sondern lediglich Missverständnisse und Fehleinschätzungen prägten das Bild der internationalen Beziehungen zwischen den beiden Supermächten. Und somit ist es auch nicht erstaunlich, dass nur der Zufall letztlich der Grund war, warum es nicht zum Ausbruch des atomar geführten, Dritten Weltkriegs kam.

Äußerst überzeugend gelingt Schild die Begründung seiner These, nimmt den Leser mit auf einen Parforceritt durch die Geschichte des Kalten Krieges und zeigt dabei, dass er zupackend und gewinnend schreiben kann. Dass dabei zuweilen Wiederholungen auftreten, soll an dieser Stelle nur unter der Hoffnung der optimierten Lernleistung durch häufiges Lesen verbucht werden.

Rezension zu:
Georg Schild, 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges, Paderborn u.a. 2013.

Freitag, 22. März 2013

Dissertationsbeifang – Kuriosita aus den Recherchen zur Do-it-yourself-Bewegung in der Bundesrepublik I: Das Leiden der Frauen



Die Arbeit an meiner Dissertation zur Do-it-yourself-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 fördert zuweilen Quellenkuriosita zutage, von denen nicht sicher ist, ob sie am Ende auch Gegenstand der Ausführungen werden können. In ihrer ungewollten, zeitbedingten Komik verdienen sie es aber dennoch, präsentiert zu werden, wenn nicht in wissenschaftlicher, so doch vielleicht in impressionistisch-essayistischer Manier. Heute soll der Anfang gemacht werden.

Wir befinden uns im Jahr 1958; an einem Sommertag im Juni versammelt sich eine Schar prominenter WirtschaftswissenschaftlerInnen aus verschiedenen Ländern  – von Schweden bis Nigeria – in der beschaulichen Schweiz und unterhält sich über die zukünftigen Potentiale des Do-it-yourself-Gedankens. 

Insbesondere die anwesenden Frauen weisen auf die Gefahren dieses Phänomens hin:

Frau E. Heyman (GB): „Sie weist auch darauf hin, was eine Familie unter einem ‚Do-it-yourself‘-Enthusiasten zu leiden hat. Es bleibt in der Regel der Gattin überlassen, die Unordnung wieder aufzuräumen, die ihr Mann verursacht hat.“

Dagegen Frau E. Hirsch (USA), die zuvor schon ein Referat über die Do-it-yourself-Bewegung in den Vereinigten Staaten gehalten hat: „„Als Beispiel der ‚Do-it-yourself‘-Bewegung zitiert sie den Fall, wo die Ehefrau in der Bastler-Werkstatt nicht zugelassen wird und somit auch nicht aufzuräumen braucht.“

Frau Goes aus Dänemark wiederum pflichtet Frau Heyman zu: „Frau Groes stimmt mit Frau Heyman darin überein, dass die Gattin unter der ‚Do-it-yourself‘-Bewegung zu leiden hat.“

Nun wendet sich aber Herr Brüschweiler aus der neutralen Schweiz an die versammelten Damen und legt den Konflikt bei: „Verschiedene Damen haben sich in der Diskussion darüber beklagt, dass das ‚Do-it-yourself‘ lediglich dazu führe, dass die Frauen nachher die vom Mann hinterlassene Unordnung aufräumen müssen. Dazu kann er nur sagen: Meine Damen, Sie haben ihre [sic!] Männer schlecht erzogen.“

Was lernen wir daraus: Erziehung ist die Basis einer guten Beziehung!

Gefunden in:  G. Törnqvist (Tagespräsident), Diskussion zu: „Do-it-yourself“ in Gegenwart und Zukunft. 10.Juli 1958. TeilnehmerInnen: R. Brüschweiler (Schweiz), J. Hirsch (USA), G. Kroebel (Deutschland), J.Walter (USA), L. Williamson (Großbritannien). Leitung: J. Thygesen (Dänemark), in:  Donald Brinkmann (Hrsg.), „Do-it-yourself“ und der Handel, Rüschlikon 1958 (= Schriftenreihe der Stiftung „Im Grüene“ 10), S. 45-56.

Montag, 18. März 2013

Ein Historiker auf Reisen I: Malta


Jedem, der seiner Profession ganz erlegen ist, wird es wohl so gehen, dass er auch im Urlaub nicht von ihr lassen kann: Der ambitionierte Zoologe wird wohl auch am Ferienort Wälder, Wiesen und sonstige Landschaft durchstreifen – immer auf der Suche der Echse, dem Insekt, ja vielleicht gar dem Warmblütler, den er bislang noch nicht in seinem natürlichen Habitat hat bewundern und katalogisieren können; ein ebensolcher Ingenieur wird – jedenfalls in meiner Vorstellung – auch in seinem Frühlings- oder Sommerdomizil daran gehen, sich Brückenkonstruktionen, interessante bauliche Lösungen für lokale geologische Gegebenheiten oder Dergleichen anzusehen; ganz zu schweigen von den Sozialwissenschaftlern, die einen Teil ihrer sicher nicht allzu reichlich gesäten Urlaubszeit dazu verwenden dürften, Elendsviertel, Slums aber auch Gated Communities einer sich andauernd als bedroht empfindenden Mittel- oder Oberschicht zu beschreiben und sie für sich (und für die bedauernswerten Mitgereisten) zu analysieren.

Dem Historiker geht es ähnlich, stößt doch auch er, egal wo er sich befindet, auf genau das, was ihn interessiert: Geschichte! Verbringt man seine Tage auf Malta recken einem schon aus jedem Souveniershop die putzigsten Plastikritterchen ihre Schwerter entgegen, wie zum Ausweise der eigenen historischen Bedeutung. Eben diese möchte ich ihnen und den gewieften Andenkenhändlern auch nicht nehmen, nur interessiert mich persönlich das Mittelalter eher herzlich wenig (auch wenn Rüstungen und Waffen durchaus das nicht allzu sehr mit dem Mantel des Erwachsenseins umgürtete Kind in mir zu Begeisterungsstürmen hinzureißen vermögen.) Als Zeithistoriker interessiert unsereins doch vielmehr die historische Gewordenheit des gegenwärtigen Zustands von Staat und Gesellschaft (ganz zu schweigen von Kultur): Warum zum Beispiel funktioniert hier ein preisgünstiges öfffentliches Nahverkehrssystem mit Buspreisen nahe der Kostenlosigkeit, wo bei uns jede Fahrplanänderung Preiserhöhungen nach sich zieht, die tatsächlich schmerzhaft sind?

Aber auch weniger soziolpolitische, sondern kulturgeschichtliche Fragen wären von Interesse: Eine Erklärung für die zahlreich vorhandenen streunenenden Hauskatzen zum Beispiel ließe sich sicher geschichtswissenschaftlich herleiten und vielleicht interessante Ergebnisse zutage fördern. (Vielleicht sogar kulturvergleichend? Warum sind es anderswo eher streunende Hunde?) Die Interpretation, dass dies die Nachfahren von im Zweiten Weltkrieg in den Städten zurückgelassenen Stubentigern seien, während Herrchen und Frauchen in den Schutz des ländlichen Hinterlandes flohen, wäre ein Ansatz. Ob er trägt?

Überhaupt der Zweite Weltkrieg! Wie in ganz Europa und darüber hinaus müssen gerade die Jahre von Besatzung, andauernden Angriffen zunächst der Italiener später der Luftwaffe und den anschließenden Vorbereitungen der britischen Landung auf Sizilien eine prägende Zeit gewesen sein, die sicher Stoff für zahlreiche sozialgeschichtliche Studien bereithalten. (Gleiches gilt sicher für die Rolle Maltas als alliiertes Spionagezentrum – mit reichlich Material für den ein oder anderen Agententhriller: Feuchtheiße Bunker, ausgestattet mit der damals neuesten Nachrichtentechnik, wackere Männer und Frauen, die in der widrigen Umgebung an der Entschlüsselung der Nachrichten der Achsenmächte arbeiten, und Einmannerkundungstrupps zur Küste Siziliens, um dort die geeigneten Küstenabschnitte zum Angriff auszumachen.)

Die gegenwärtige Geschichtsschreibung zu Malta im Zweiten Weltkrieg scheint allerdings noch stark von einer technikverliebten und auf Schlachtenverläufe abzielenden britischen Tradition geprägt zu sein. Informationen über die Gesellschaft im Krieg müssen dabei schon zwischen den Zeilen und in Unterkapiteln verborgen gesucht und gefunden werden.

Mittwoch, 6. März 2013

Geschichte im Computerspiel. Über eine neue Forschungskonjunktur

Wie es scheint, kommt nun langsam die Generation, die wenigstens einen Teil ihrer Jugend mit Computerspielen verbracht hat, in das Alter, wo man daran geht, akademische Qualifikationsarbeiten zu schreiben. Waren vor einigen Jahren noch die Arbeiten zu "Geschichte im Comic" derart zahlreich, dass es wohl eines Zaubertranks bedurft hätte, um sie alle auch nur oberflächlich wahrzunehmen, droht ein gleiches Schicksal nun den Computerspielen.

Notdürftig mit fachdidaktischem Vokabular bemäntelt - wie z.B. mit dem geradezu inflationär verwendeten Begriff der 'Geschichtskultur' - gehen nun ehemalige und aktive Gamer (auffälligerweise handelt es sich tatsächlich größtenteils um "Wissenschaftler" männlichen Geschlechts) daran, ihr Hobby zur Wissenschaft zu machen. Hanebüchene Fragestellungen und in allen Einleitungstexten wiedergekäute unbedingt zu beseitigende Desiderate werden aufgestellt und dann mehr oder weniger sachkundig bearbeitet. Welche Epochen werden besonders häufig für die Konzeption von Spielen verwendet? Welches Geschichtsbild wird vermittelt? Kann man durch Computerspiele lernen?

An dem Punkt, an dem es interessant wird, bricht man ab: Nein, welche Wirkungen die vermittelten Inhalte auf die Rezipienten haben, könne nicht beantwortet werden. Wirkungsforschungen seien kompliziert und überhaupt sprängen sie das (freilich selbst entworfene!) Forschungsdesign. Grandiose, die Wissenschaft ungemein voranbringende Erkenntnisse sind die Folge: Neben Antike und Mittelalter ist vor allem der Zweite Weltkrieg (inzwischen aber auch vermehrt der Erste) in den Spielen anzutreffen...Wunderbar! Halten wir also fest: Krieg eignet sich als Thema für Computerspiele ganz ungemein. (Ich bin bei Gott kein Experte für Computerspiele, bekomme ich doch vom Spielen schnell Kopfschmerzen, aber die besondere Attraktivität kriegerischer Auseinandersetzungen für Spiele habe ich mir durchaus auch vor der Lektüre vorstellen können - bedarf es doch immer eines Konflikts, um jedes Spiel interessant zu machen; von Schach, über Mensch ärgere dich nicht, bis eben zu dem, was der Computer uns ermöglicht.)

Und der Lerneffekt? Nun ja, mit dem sei es auch nicht so weit her und überhaupt: Man darf die Spieleindustrie auch nicht mit didaktischen Maßstäben messen! Ganz meine Meinung, aber dann tut es doch bitte auch nicht unentwegt. Computerspiele sind eine Ware auf dem hart umkämpften Unterhaltungsmarkt und auch als solche zu analysieren. Warum nicht mal branchen- oder unternehmensgeschichtliche Studien, um überhaupt einmal zu fragen, warum Geschichte derart interessant für die Produzentenseite ist? Und wenn schon von Geschichtskultur gesprochen wird, dann bitte auch nicht nur von den möglichen Medien, die diese transportieren (eben den Spielen!), sondern durchaus auch von den Rezipienten, die mit dieser umgehen. Dass dies durchaus eigensinnig geschehen kann, dass der Rezipient niemand ist, der blind übernimmt, was ihm dargereicht wird, sind letztlich Erkenntnisse, die sich von der Literaturwissenschaft durch alle anderen Kultur- und Geisteswissenschaften ziehen.

Genau diese Grundannahme sollte das Forschungsvorhaben bestimmen.

Montag, 4. März 2013

Emotionen und Förmlichkeiten. Ursula Krechels Roman Landgericht

"Keine Emotionen sind überliefert, nur Förmlichkeiten, Verbindlichkeiten [...]"; jeder geschichtswissenschaftlich Forschende wird ähnliche Erfahrungen gemacht haben, zumal wenn er es mit Verwaltungsschrifttum zu tun bekommen hat. Zahlen, Paragraphen und das scheinbare so korrekte Beamtendeutsch lassen häufig keinen Platz für Gefühle, für Empfindungen, für das, was eben derartige Schriftstücke bei demjenigen auslösen, der sie zugestellt bekommt. Die akademische Zeitgeschichte kann derartige Lehrstellen nur schwerlich ausfüllen: Ihr Methodenapparat mit seinen Anforderungen an die intersubjektive Plausibilität der eigenen Schlüsse, die Angewiesenheit auf Quellen für die Thesenbildung und die Überprüfbarkeit der Interpretationen bürgen zwar auf der einen Seite für ihre Wissenschaftlichkeit. Auf der anderen Seit verbleiben aber auch zahlreiche schmerzliche Lehrstellen eben gerade dort, wo es um die individuelle Erfahrungs- und Gefühlswelt von Einzelpersonen geht.

Die Literatur - und insbesondere der (zeit-)historische Roman bieten hier Abhilfe. Dabei geht es weniger um geschichtlich schlecht bemäntelte Machwerke, die sich der historischen Kulisse bedienen, um der dürftigen "Story", der austauschbaren Liebes- oder Kriminalitätsgeschichte, doch noch ein Mindestmaß an Relevanz zuteil werden zu lassen. Anders Werke, die sowohl zeitgeschichtlich fundiert recherchiert sind - und dabei sicher einen Aufwand verursacht haben, der einen landläufigen zeithistorischen Monografie in nichts nachsteht -, die aber gleichzeitig auch auf dieser abgesicherten Grundlage von der Imaginationskraft des Schriftstellers derart erfüllt sind, dass sie über das hinaus gehen, was eine wissenschaftliche Studie zu leisten vermag. (Und diese wird es aus oben genannten Gründen auch gar nicht leisten wollen - und das ist auch gut so!)

Ein solches Beispiel ist Ursula Krechels Roman Landgericht. Man merkt dem Buch an, dass sie sich darum bemüht, den zeitgeschichtlichen Hintergrund ihres Plots genau zu studieren: Selten wurden die 1950er Jahre plastischer in ihrer Dichotomie zwischen zukunftsgewissem Aufbruch und historischen Überhängen aus der NS-Zeit beschrieben. Und genau dazwischen wird der Remigrant Richard Kornitzer zerrieben; als geschulter Jurist, der als Jude vor dem NS-Terror nach Kuba fliehen musste, während seine "arische" Ehefrau in Berlin verblieb, werden die Instanzen geschildert, an die er sich in den 1950er wandt, um für sein Recht zu kämpfen -  das ihm immer mit dem Verweis auf Paragraphen feinsäuberlich abgeschlagen werden.  Mag die Geschichte selber wenig überraschend, ja inzwischen schon häufig gehört erscheinen, so ist die Art, wie Krechel sie darstellt, kaum zu übertreffen. Aktenkundliche Quellenfunde aus Wiedergutmachungsstellen werden den emotionellen Reflexionen Kornitzers und dessen Familiengeschichte gegenübergestellt. Auch wenn für diesen Fall, so wie Krechel es selber feststellt, keine Emotionen, sondern nur Förmlichkeiten und Verbindlichkeiten überliefert sind, gelingt es der Autorin doch, eben diese Leerstellen überzeugend zu füllen.

Rezension zu: Ursula Krechel, Landgericht. Roman, Salzburg u. Wien 2012.

Samstag, 2. März 2013

Ein großer Wurf - im Backsteinformat. Der 52. Band des Archivs für Sozialgeschichte: "Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre"

Was zeichnet gute Herausgeber von Sammelbänden und Zeitschriftensondernummern aus? Wahrscheinlich zunächst, dass es Ihnen gelingt, eine ansprechende Fragestellung zu formulieren, die neue Erkenntnisse verspricht und verschiedene Herangehensweisen, theoretische Prämissen und Themen unter einem gemeinsamen Dach zu versammeln vermag. Und zweitens: Dass es ihnen im Entstehungsprozess des Bandes auch gelingt, alle Autoren auf eben diese Fragestellung zu verpflichten, akademischen Eitelkeiten Einhalt zu gebieten und die Beiträger mit disziplinarischer Strenge auf den Erfolg des Gesamtprojekts zu eichen.

Beides gelingt den Herausgebern des 52. Jahrgangs des Archivs für Sozialgeschichte; sie nehmen sich dem bislang nur in den Anfängen vermessenen Thema der 1980er Jahre an und stellen die Auseinandersetzung mit diesem unter den weiten - doch immer auch konkret zu füllenden - Obertitel "Wandel des Politischen". Autoren mit den verschiedensten thematischen und theoretischen Steckenpferden nehmen sich nun ihr jeweiliges Arbeitsgebiet vor und klopfen eben dieses genau auf den zur Diskussion stehenden "Wandel" ab: Sei es nun die Neue Deutsche Welle (Annette Vowinckel), die Grünen (Silke Mende), das bislang noch viel zu wenig erforschte Thema AIDS (Henning Tümmers) und die klassischerweise mit dieser Epoche verbundenen Großthemen wie die (Un-)Regierbarkeitsdebatte und die Erosion der klassischen Sozialmilieus inklusive ihrer angestammten Wahlpräferenzen (Michael Ruck).

Zeitgenössisch formulierte Gesellschaftsdiagnosen wie der Wertewandel werden bei der nun einsetzenden zeithistorischen Auseinandersetzungen auf ihre Deutungskraft für die beschriebenen Phänomene hin befragt - und dadurch die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse sogleich historisiert.

Die Stärke des Bandes liegt dabei vor allem darin, dass man ihn sowohl als geschichtswissenschaftliches Handbuch zu den 1980er verwenden kann, aus dem einzelne Artikel gelesen und durchdacht werden können - je nach Interesse, geschmacklicher Vorliebe oder Forschungsschwerpunkt des Lesers. Gleichzeitig ist es - und das ist wohl eher unüblich für einen Zeitschriftenband - auch ein fundiertes und vor allem gut geschriebenes Lesebuch zur Geschichte der 1980er Jahre, das auch von der ersten bis zur letzten Seite gewinnbringend gelesen werden kann. Die Wiederholungen, die dabei unweigerlich auftreten (wie die in vielen Aufsätzen durchdeklinierten Thesen Ingleharts, das wiederkehrende Zitat der Habermas'schen Neuen Unübersichtlichkeit oder aber auch die Vorstellungen, die mit der Kohl zugeschriebenen, tatsächlich von ihm aber wohl nicht verwendeten Formel der "geistig-moralischen Wende" verbunden werden), können dabei als den Lernprozess unterstützende Repititionen gewertet werden.

Es ist davon auszugehen, dass der aktuelle Band schon jetzt kurz nach seinem Erscheinen als Standardwerk zur Erforschung der Zeitgeschichte der 1980er gelten kann.

Dienstag, 26. Februar 2013

Appetite for Change



Es gibt doch tatsächlich geschichtswissenschaftliche Bücher, die man nicht mit leerem Magen lesen sollte – denn sie machen Appetit. (So wie man einen Großteil der gegenwärtigen belletristischen Produktion nicht mit vollem Magen lesen sollte, denn er hat den umgekehrte Effekt.) Als Entscheidungshilfe für die Wahl des richtigen Mittagstischs kann man Maren Möhrings Habilitationsschrift über die ausländische Gastronomie dennoch nicht ansehen: Das Potpourri, das sie für den Leser ausbreitet,  ist einfach zu breit gefächert, als dass es ihm die Wahl erleichterte.

Und neben einer knusprig mediterranen Pizza, einem gepflegt jugoslawischen Grillteller oder einer süß-sauren Peking-Ente sollte man das Buch auch nicht lesen; es ist weniger ein kulinarischer Schmöker als vielmehr eine fundierte Analyse darüber, wie der Deutsche lernte, fremde Speisen zu goutieren (ohne darüber direkt zum liberalisierten Multikulturalisten zu werden, wie die durchaus zu teilende Pointe Möhrings sich durch das gesamte Buch zieht). Die Pasta beim Italiener in Tatgemeinschaft mit süßlichen Caprifischerklängen und Bella-Roma-Fotografien an den Wänden als Urlaub im Kleinformat – so stellt sich der Besuch in der Pizzeria zunächst in den Großstädten, bald aber auch schon in kleineren Städten, ja gar auf Dörfern in der Bundesrepublik dar. Der gewiefte Kleinunternehmer versteht es, sich diese zugeschriebene Ethnisierung zu eigen zu machen, und durch Selbst-Ethnisierung noch zu verstärken – alles, um den Ansprüchen des Gastes gerecht zu werden.

Balkanstuben, Pizzerien und  Döner-Imbisse zum Thema einer breit angelegten historischen Studie zu machen verdient allein schon die Verleihung eines goldenen Kochlöffels für die Autorin – wenn dies auch noch theoretisch derart überzeugend und argumentativ derart differenziert erfolgt wie bei Möhring, so kommen gleich noch ein paar Michelin-Sterne hinzu. Ihrer  Grundthese folgend, dass die Verbreitung ausländischer Gastronomie nur unter Berücksichtigung zweier Phänomene von Massenmobilität zu beschreiben ist (sowohl des Massentourismus der westdeutschen Nachkriegsgeschichte als auch der Anwerbung von vor allem südeuropäischen Arbeitskräften), kann Möhring sich mit ihrer Studie sowohl in der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik – die augenblicklich und endlich Fahrt aufzunehmen scheint – aufstellen, als auch der Konsumgeschichtsschreibung interessante Aspekte hinzufügen.

Kulinarische Moden sind der Ausdruck sich verschiebener Machtverhältnisse, so eine weitere, überzeugend begründete These Möhrings. Und so waren es zunächst vor allem Studenten und Künstler, die mit (notorisch) geringem ökonomischen Kapital ausgestattet dafür aber bis zum Zerberstens angefüllt mit kulturellem Kapital die ausländische Gastronomie für sich entdeckten und hier eine größtmögliche Distinktion zu allem deutsch-(gut-)bürgerlichen auszumachen glaubten. Der appetite for change der Gegenkultur hat in Pizzeria und Co. sein libertäres Habitat gefunden.

 In diesem Sinne: Guten Appetit!

Rezension zu: Maren Möhring, Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012.

Montag, 25. Februar 2013

Einen vom Pferd erzählen...




Zeitgeschichtliches Wissen kann nie schaden – sowohl im politischen Diskurs als auch beim Kneipenabend: Man fühlt sich doch immer ein Stückchen besser informiert und wenn die Stimmung im Schwinden begriffen ist, kramt man irgendwo aus der Kleinhirnrinde etwas Gelesenes hervor, und belebt das gesellige Beisammensein wieder. (Oder gibt ihm den Todesstoß, ganz nach Temperament und Art des Berichteten.)

In Zeiten, in denen nicht nur die Ernährung an sich geschichtswissenschaftlich erforscht wird, sondern sie in vielen Fällen selbst schon eine lange Geschichte hinter sich hat, bevor sie auf unserem Teller landet, sollte man sich doch einmal Fragen, wo die Wurzel gegenwärtiger Skandale zu suchen ist. Der Reflex, dass wir alle die willenlosen Opfer der allmächtigen Nahrungsmittellobby sind, ist ebenso angebracht wie diskussionswürdig, und um eben diesen soll es hier nicht gehen. Die Frage, warum ausgerechnet Pferdefleisch (und nicht etwa Bisamratte oder Känguru) in Rindfleischprodukten landete, beantwortet er nur ungenügend. Weil es billig ist – auch diese Erwiderung verlagert die Suche nach der Antwort nur eine Stufe weiter zurück. Warum ist Pferdefleisch in Rumänien nun so preiswert? Ein Blick in Tony Judts fulminante Studie zur europäischen Nachkriegsgeschichte schafft Abhilfe:

"Der Benzinverbrauch [in Rumänien] wurde auf ein Minimum eingeschränkt. 1986 wurde ein Pferdezuchtprogramm eingeführt, um einen Ersatz für Motorfahrzeuge zu schaffen. Pferdekarren avancierten zum wichtigsten Transportmittel [...]." (Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2006.)

Nun geht es selbst in Rumänien mit dem vormodernen Transportwesen nicht unbeschränkt weiter in Richtung postceausescusche Zukunft, nein inzwischen hat das Automobil Einzug gehalten, die Pferde werden überflüssig, ja lästig und von den Straßen verdrängt. Die Tourismusindustrie ist noch nicht so weit, als dass alle ausgedienten Rappen auf Ferienbauernhöfen ihr Gnadenbrot verzehren dürften, und so war irgendwann Schluss mit dem römisch-dekadenten Wiederkäuen der arbeitslos gewordenen Transportnostalgiker.


Woran der Westen nun würgt, ist also noch immer die totalitäre Vergangenheit seiner östlichen Nachbarn (südeuropäisch verbrämt zur besseren Verdaulichkeit).