Während die akademische
Geschichtsschreibung sich schwer damit tut, Stimmungen einzufangen –
der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat erst in seiner
aktuellen Arbeit zur Latenz einen theoretisch begründeten Anfang zu
ihrer möglichen wissenschaftlichen Analyse gemacht –, so hat die
in aus der Zeitgeschichte ihre Themen beziehende Literatur hier einen
klaren Vorteil. Sie muss sich weniger um Quellen und die Frage der
empirischen Überprüfbarkeit stellen, ihre Plausibilität ergibt
sich aus der erzählten Fabel und der dazu verwendeten erzählerischen
Mittel.
Autobiographisch fundierte Literatur
nimmt dazu noch die Autorität des Zeitzeugen für sich in Anspruch.
Wenigen Romanen gelingt es wohl derart überzeugend eben die
Stimmungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre so überzeugend
einzufangen – und darzustellen – wie Ulrike Edschmid in ihrem
Buch „Das Verschwinden des Philip S.“ Einzig Uwe Timms „Heißer
Sommer“ ist darin eventuell noch vergleichbar, im Gegensatz zu
Timms Erzählhaltung, der sich mit gekonnter Ironie im Erzähmodus
der Komödie bewegt, ist bei Edschmid wenig Komisches oder Ironie zu
finden.
Edschmid lässt den Leser eine Tragödie
nachvollziehen. Den Weg des Filmstudenten Philip S. Von formalen
Experimenten auf der Leinwand und privaten Aufbrüchen mit dem Ziel einer
Neugestaltung von Familienleben und Kindererziehung hin zum
Terrorismus der 1970er Jahre. Äußerst überzeugend gestaltet
Edschmid dabei die Position der (wiederum autobiographisch) gefärbten
Ich-Erzählerin, die diesen Weg zunächst mitgeht, irgendwann jedoch
– vor allem in Sorge um das eigene Kind – aus der Gewaltspirale
ausbricht und nur noch beobachten kann, wie Philip S. den Gang in die
Illgelität antritt und letztlich in einer Schießerei mit Polizisten
stirbt.
Mit Nostalgie für die Aufbruchjahre
der 1960er und mit zunehmendem Unverständnis darüber, was daraus
folgte, beschreibt Edschmid den Abschied ihres Lebensgefährten aus
dem vermeintlich richtigen Leben im so empfundenen falschen um sie
herum. Die entsprechenden zeitgeschichtlichen Ereignisse, die die
Radikalisierung der späten 1960er Jahre bedingten, werden benannt
(die Erschießung Ohnesorgs, die Schlacht am Tegeler Weg etc.), die
entsprechenden zeithistorischen Personen treten auf (wobei auffällt,
dass z.B. Rudi Dutschke nie beim Namen genannt, sondern nur als
„Studentenführer“ deklariert wird, eine Zuschreibung, die er
selbst – auch wortwörtlich – immer wieder für sich abgelehnt
hat) und die Stimmung dieser Zeit wird, jedenfalls für jemanden, der
sie nicht miterlebt, sondern nur aus der Forschung und aus
zeitgenössischen Berichten kennt, sowohl faktisch überzeugend als
auch stilistisch gekonnt dargestellt. Dabei fällt vor allem
Edschmids gelungene Beschreibung der Verflechtungsgeschichte der
Studentenbewegungen der Bundesrepublik und Italiens auf, die erst
seit kurzer Zeit auch Teil einer wissenschaftlichen Beschäftigung
mit dieser Zeit ist (Vgl. die Habilitation von Petra Terhoeven).
Edschmids Roman ist ein Buch, das für
jeden zu empfehlen ist, der sich mit der bundesrepublikanischen
Zeitgeschichte beschäftigt und der nach den Gründen für den
Terrorismus der 1960er Jahre fragt. Dass Edschmid – die nicht nur
als Chronistin, sondern auch als Beteiligte – die Ursache vor allem
bei einer Überreaktion der staatlichen Stellen zu Beginn des
kulturellen Aufbruchs sieht, der Terrorismus von RAF und den
vergleichbaren Gruppen so nur eine ebenfalls gewaltsame Reaktion auf
Hausdurchsuchungen, Überwachungen, Beschlagnahmungen und Festnahmen erscheint, macht ihr Buch auch zu einem Thesenroman, über dessen
Grundannahmen diskutiert werden kann und muss. Sollten weitere
Diskussionsbeiträge ebenso gekonnt und lesenswert ausfallen, kann
darin nur eine begrüßenswerte Entwicklung gesehen werden.
Rezension zu:
Ulrike Edschmid, Das Verschwinden des Philip S., Berlin 2013. Seit des Verlags
Ulrike Edschmid, Das Verschwinden des Philip S., Berlin 2013. Seit des Verlags
Erwähnte weitere Werke:
Uwe Timm, Heißer Sommer, München
1998. (Zuerst 1974; das frühe Erscheinungsdatum legt wohl auch noch
eher die Erzählform der Komödie nahe – der „Deutsche Herbst“
war so noch nicht Teil der Erfahrungswelt des Autors) Seite des Verlags
Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945.
Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012. Seite des Verlags
Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in
Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales
Phänomen, München 2014. Besprechung bei HSozKult
Die Besprechung dieses Buchs erfolgt im
Rahmen der Aktion „Blogger schenken Lesefreude.“ Das Buch wird
nach der Besprechung einem interessierten Leser zur Verfügung
gestellt. Die 1960er Jahre waren eine Zeit, in der es auch – siehe
die auch im Roman vorkommenden Raubdrucke – um eine
Demokratisierung des Wissens ging. Teil dieser Demokratisierung von
Wissen und Bildung der Gegenwart sind die in zahlreichen Städten
aufgestellten Bücherboxen. In diesen können nicht mehr benötigte
Bücher weiteren Lesern zur Verfügung gestellt werden, um sie vor
dem Altpapiercontainer zu bewahren. Dieses Exemplar von Edschmids
Roman wurde in der Bücherbox am Engelborsteler Damm in Hannover
deponiert und findet so hoffentlich weitere interessierte Leser.
Zu den öffentlichen
Bücherboxen/Bücherschränken siehe auch den entsprechenden Eintrag bei Wikipedia