Mittwoch, 28. Mai 2014

Im Archiv

Eine der zum Klischee geronnenen Geschichten des Historikerdaseins ist die spannungsreiche Beziehung zwischen Archivar und Wissenschaftler. Zahlreiche Anekdoten ranken sich um Erlebnisse mit mürrischen Archivaren, die ihre Dokumente hüten wie ihr eigenes Kind und niemandem den Blick auf sie gestatten wollen – von Wünschen nach Reproduktionen oder anderen Ungehörigkeiten ganz zu schweigen. Und dann noch die Räuberpistolen der Kollegen, die sich auf die osteuropäische Geschichte spezialisiert haben und die davon zu berichten wissen, wie man sich langsam die Gunst des Archivars ertrank oder wie der mit Forschungsmitteln gut ausgestattete Ivy-League-Historiker einen Geldkoffer über den Tresen des Archivs schob und so Unterlagen zu sehen bekam, die zuvor noch als nicht mehr existent oder gar als nie da gewesen beschrieben wurden. (Womit sollte man da dagegenhalten? Damit, dass man sich schon mal die Finger in einem Archiv in einer niedersächsischen Provinzstadt verletzt hat? Ein glatter Schnitt mit einem Papier, der allerdings nicht genäht werden musste.)

Die tatsächlichen Erlebnisse im Archiv nehmen sich neben derart ruchlosen Räuberpistolen eher harmlos aus; sie beginnen damit, dass man eine Archivalie bestellt, deren Kurzbeschreibung und Betitelung genau das Dokument versprachen, auf das man seit Beginn der eigenen Recherchen gehofft hat. Und dann kommt der Bestellzettel mit dem Vermerk zurück, dass genau diese Mappe seit 2008 verschollen sei. Oder aber: Man bekommt das Konvolut ausgehändigt und muss feststellen, dass der Autor der Inhaltsangabe des Dokuments entweder ein gerüttelt Maß an Phantasie hat walten lassen, dass er andere Dinge hinter den von dir gesuchten Begriffen versteht oder aber dass die eigene Schlagwortsuche einfach nicht zu dem passt, was man erforschen möchte. Und da sitzt man da mit seinen wenig informativen Papieren – eine Situation, die noch durch zweierlei Beobachtungen verstärkt wird:

  1. Zum einen gibt es immer den einen älteren Herren, der ebenfalls im Archiv arbeitet, die dicksten Aktenkonvolute vor sich liegen hat, die wahnsinnig spannende Titel tragen und als wollte er sich über dich lustig machen auch in schierer Forscherleidenschaft notiert, blättert und seinem Entdeckerstolz (im Rahmen des im Archiv Schicklichen) freien Lauf lässt. Während er also voller Begeisterung die Geschichte umschreibt, sitzt du vor Zahlenkolonnen, belanglosen Briefwechseln, in denen Lieferant und Einzelhändler um die letzte Stelle hinterm Komma feilschen, und Unternehmenshagiographien, in denen man sich mutig selbst beweihräuchert.
  2. Zum anderen hat man nur diese Unterlagen für die nächsten zwei Stunden – erst dann wird wieder ausgehoben. Vielleicht hat man dann ja mehr Glück...was macht man solange? Man schreibt Blogeinträge.


Staatsarchiv Osnabrück am 27.05.2014

Montag, 19. Mai 2014

Zeitgeschichte der Gefühle. Aus geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften I.

Zu Bernhard Gottos Aufsatz, Enttäuschung als Politikressource. Zur Kohäsion der westdeutschen Friedensbewegung in den 1980er Jahren, in: VfZ 62 (2014), H.1, S. 1-33.

Auch wenn die eigenen Zeitressourcen im Grunde gänzlich durch die für die eigene Arbeit thematisch relevante Literatur in Anspruch genommen werden, nimmt man sich doch hin und wieder die Zeit, in die aktuellen geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften zu schauen. Nur so kann man sehen, was aktuell diskutiert wird, worüber das eigene Fach sich augenblicklich gerade streitet und welche methodischen Neuerungen en vogue sind. Heute nehmen wir uns Bernhard Gottos Aufsatz zur Gefühlslage der Friedensbewegung vor.

Um sich dem Gefühlshaushalt dieser Neuen Sozialen Bewegung zu nähern verwendet Gotto den Begriff der Enttäuschung. Anders jedoch als die klassische Niedergangsgeschichte der Friedensbewegung belässt es Gotto nicht bei einer reinen chronologischen Abfolge von Euphorie zu Beginn und allgemeiner Enttäuschung nach dem Stationierungsbeschluss 1983 und dem folgenden Absinken der Friedensbewegung in der Bedeutungslosigkeit. Theoretisch reflektiert und empirisch differenziert fragt er vielmehr nach unterschiedlichen Formen von Enttäuschung bei verschiedenen ProtagonistInnen und vor allem nach unterschiedlichen Gründen für eben dieses Gefühl.

Unter Verwendung der koselleckschen Begrifflichkeiten von "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" (die trotz ihres nunmehr beinahe vierzigjährigen Bestands im fachwissenschaftlichen Diskurs noch immer nichts an ihrem analytischen Potential eingebüßt haben) definiert Gotto die Enttäuschung als Inkongruenz zwischen den Erwartungen und den dann gemachten Erfahrungen. Nach Akteursgruppen unterschieden macht Gotto diese Inkongruenz nun jeweils unterschiedlich fest: Der rührige Aktivist sah sich in der geringen Aktivität der beim Ostermarsch Mitlaufenden enttäuscht; diese wiederum enttäuschten die überspannte Erwartungshaltung der OrganisatorInnen und die Autonomen vermerkten enttäuscht, dass die Proteste zu wenig radikal gewesen seien, sondern sich zu Kaffeekränzchen mit allerlei Prominenz auswuchsen.

Ist diese Feststellung noch nicht sonderlich überraschend (aber durchaus überzeugend empirisch und quellennah herausgearbeitet), so geht Gotto noch einen Schritt weiter und analysiert nun, wie in der Friedensbewegung selbst mit diesen Enttäuschungserfahrungen umgegangen wurde - und hier zeigte sich die Friedensbewegung als äußerst erfolgreich im Gefühlsmanagement. Um die Enttäuschung nicht überhand nehmen und sie vor allem nicht in Resignation (und damit Untätigkeit, den sicheren Tod einer jeden Bewegung) umschlagen zu lassen, musste entweder produktiv mit diesem Gefühl umgegangen oder aber die Enttäuschung per se negiert werden. Drei Strategien werden von Gotto genannt, um mit den Enttäuschungen umzugehen; unter dem Stichwort "Autoimmunisierung" beschreibt Gotto Maßnahmen der (nachträglichen) Neudefinition der eigentlichen Ziele, die nun unter den eigentlich angesetzten lagen. Aus der Verhinderung von Stationierungen wurde so der "erste Schritt zur Entmilitarisierung der Gesellschaft", der durch die Proteste gegangen worden sei. Statt der "Dringlichkeit", die die Rhetorik der Friedensbewegung in ihrem Beginn bestimmte, wurde der "lange Atem", der noch benötigt werde, um den Frieden zu erreichen. Aus dem Ziel der Veränderung der Gesellschaft wurde das Ziel der Veränderung des eigenen Selbst durch die Erfahrungen des gemeinsamen Protests.

Gottos Analyse der Enttäuschung in der Friedensbewegung ist in seiner analytischen Klarheit und der gewählten theoretischen Zugangsweise mehr als überzeugend und im besten Sinne thought provoking. Insbesondere der Hinweis darauf, dass man für die 1980er nicht nur von einem "Wandel des Politischen" sprechen sollte, sondern gleichzeitig auch fragen sollte, wie sich die Akteure selbst veränderten, sollte Eingang finden in die Zeitgeschichtsschreibung dieses Jahrzehnts, das augenblicklich noch historiographisch vermessen wird. Gottos Zugang über eine Zeitgeschichte der Gefühle setzt dazu einen diskussionswürdigen Startpunkt.

Montag, 12. Mai 2014

Der Krieg in der Region: Mobilisierung, Sinnstiftung und Trauer in der niedersächsischen Provinz und darüber hinaus. Tagungsbericht zu: „Kriegsbeginn im Norddeutschland. Zur Herausbildung einer 'Kriegskultur' 1914/15 in transnationaler Perspektive. Tagung in Wilhelmshaven vom 8. bis 10. Mai 2014“

Was hat der Nordwesten Deutschlands mit dem Ersten Weltkrieg zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel, fanden doch die berühmten und allein schon durch ihre schieren Opferzahlen geschichtsträchtigen Schlachten anderswo statt. Dass aber auch das Gebiet des heutigen Niedersachsens und Bremens vom Krieg beeinflusst wurde, ja dass auch hier das festzustellen ist, was die französische Historiographie „Kriegskultur“ zu nennen beginnt, war Thema der diesjährigen Tagung des Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. Dankenswerterweise beließen es die OrganisatorInnen (Prof. Dr. Cornelia Rauh, Prof. Dr. Dirk Schumann und Prof. Dr. Arnd Reitemeier) nicht bei der norddeutschen Nabelschau, sondern versuchten auch darüber hinausgehende Perspektiven in die Diskussion mit einzubeziehen. Dass das zuweilen trostlos wirkende Wilhelmshaven – insbesondere bei andauerndem Regenwetter – gar nicht so zufällig als Tagungsort gewählt wurde, wie es zunächst in den Anschein hatte, wurde deutlich, sobald man nähere Informationen zur überaus kriegerischen Geschichte der Stadt erhalten hatte.

Schon in der Einführung durch DIRK SCHUMANN und ARND REITEMEIER wurde deutlich, worum es der Tagung ging. Man wolle dem Vorwurf entgegenwirken, der der Landesgeschichte häufig gemacht werde: Nicht die selbstgenügsame Betrachtung des eigenen Umfelds, sondern die Einbettung der hiesigen Entwicklungen ins große Ganze, so das überaus überzeugend vorgebrachte Anliegen! Auch wenn das lange Zeit dominierende Bild der Kriegseuphorie im August 1914 durch zahlreiche Forschungen relativiert worden sei, so muss doch gefragt werden, wie sich in den ersten Monaten des Kriegs das ausprägen konnte, was den Krieg ermöglichte und das Durchhalten trotz hoher Verluste, Nahrungsmittelengpässen und sinkendem Lebensstandard gewährleistete. Wie entstand und was zeichnete die sogenannte „Kriegskultur“ im nordwestdeutschen Raum aus und wie lassen sich diese Befunde mit anderen Regionen vergleichen? Fünf Schneisen sollten den Weg zur Beantwortung dieser Fragen ebnen: Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft, Stadt, Medizin und Geschlecht, Trauer und Deutungen.

ANTJE STRAHL eröffnete die Sektion zur ländlichen Gesellschaft mit einem Vortrag über die Situation der mecklenburgischen Landwirtschaft in den ersten Kriegsjahren. Die dortige Situation kennzeichneten dabei vor allem zwei Problemlagen: Das Fehlen von arbeitsfähigen Männern und zweitens der Mangel an Arbeitspferden. Konnte das erste Problem noch durch den Einsatz von Kriegsgefangenen teilweise gelöst werden, gab es keinen Ersatz für die tierischen Helfer in der Landwirtschaft, die vom Militär benötigt wurden.

Weiter nach Osten führte der Vortrag von STEPHAN LEHNSTAEDT. Der ausgewiesene Kenner der polnischen Geschichte fragte nach der Situation im besetzten Polen und den Hoffnungen, die sich die deutsche Verwaltung mit der Eroberung dieser „Kornkammer“ machten. Dass sich diese Hoffnungen trotz brutalster Maßnahmen, die zu Hunger in der polnischen Bevölkerung führte, nie erfüllten, konnte Lehnstaedt äußerst überzeugend darstellen.

So interessant beide Vorträge für sich genommen auch waren, muss dennoch gefragt werden, inwieweit sie dazu taugen, neue Einsichten in die „Kriegskultur“ im ländlichen Raum zu werfen. Es bleibt letztlich unklar, warum die Not in Mecklenburg zwar allgemein spürbar war, der Krieg aber offenbar nicht infrage gestellt wurde. Für das polnische Beispiel könnte vielleicht argumentiert werden, dass erst die "Kriegskultur" erlaubte, auch auf Kosten einer Notlage der einheimischen Bevölkerung weiter an den Export der dort produzierten Nahrungsmittel zu denken.

Vom Land ging es direkt in die Stadt, genauer zunächst nach Münster. In seinem theoretisch dichten und thesenstarken Vortrag analysierte CHRISTOPH NÜBEL die Situation in dieser westfälischen Stadt in den Jahren 1914 und 1915. Schon in der gewählten Fragestellung machte Nübel deutlich, dass er die Vorgaben der TagungsorganisatorInnen auf sein konkretes Beispiel anzuwenden wusste: Den Begriff der Mobilisierung verwendend gelang es ihm, aufzuzeigen, wie sich die Stadtgesellschaft innerhalb kürzester Zeit auf die Kriegssituation einstellte. Gleichzeitig stellte Nübel die Zentralität des Opferbegriffs heraus und verknüpfte diesen gekonnt mit den drei von ihm gewählten Analysekategorien Sicherheit, Ausnahmezustand und Burgfrieden. Insgesamt machte er deutlich, welche Potentiale sich ergeben, lässt man sich auf die Tagungsgrundlagen ein, kann diese durch eigene theoretische Zugänge erweitern und verfügt schließlich noch über ausreichend Quellen, um die Befunde empirisch zu untermauern.

DIANA SCHWEITZER wählte für das Beispiel Lübeck einen anderen Zugang. Ausgehend von dem Befund, dass es in dieser Stadt 1918 keine Revolution gegeben habe, fragte sie, ob schon zu Beginn des Krieges Unterschiede zu anderen vergleichbaren Städte gebe, die deren Fehlen erklären könne. Leider waren Schweitzers Forschungen noch nicht so weit fortgeschritten, als dass sich Antworten auf diese durchaus interessante Frage finden ließen – die gleichzeitig wohl immer mit den Problemen konfrontiert sein wird, die kontrafaktische Geschichtsbetrachtungen nun einmal nach sich ziehen. Zu belegen, warum etwas nicht eintrat, wird immer schwieriger und vor allem spekulativer sein, als nachzuvollziehen, wie es denn eigentlich gewesen.

Den ersten Tagungsort krönte ROGER CHICKERING mit einem fulminanten Abendvortrag, der erneut bewies, warum der amerikanische Historiker zu einem der besten Kennern der deutschen Geschichte gehört. In seinem kurzweiligen Vortrag ging er der Frage nach, ab wann der Erste Weltkrieg als „totaler Krieg“ zu bezeichnen sei – wenn er es überhaupt war! Wie es sich für einen differenzierten Vortrag gehört, bot Chickering für diese Frage verschiedene Antworten an: Mit der Remobilisierung in den letzten Kriegsjahren, mit dem Begehen der Kriegsgreuel (von den Deutschen in Belgien und den Russen in Ostpreußen) oder – und damit ganz im Sinne der Tagung – schon in den ersten Monaten des Krieges, im „langen Jahr 1915“. Schon hier sei eine Radikalisierung und Intensivierung der Kriegsführung festzustellen, deren sichtbarer Ausdruck die Einführung des Stahlhelms wurde. Schon derart früh ließ sich der Einsatz militärischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung feststellen. Schon von da an wurde auch die Heimat in den Dienst des Krieges gestellt. Eher ernüchtert konnte Chickering in Anbetracht all dessen jedoch feststellen, dass dies allesamt keine neuen Elemente des industrialisierten Krieges des 20. Jahrhundert waren, sondern schon vorher feststellbar waren. Darüber hinaus gab er durchaus zu, dass die Frage an sich schon müßig ist – sofern sie auf Totalität des Krieges als Zustand abzielt. Was Chickering stattdessen vorschlug, war die Betrachtung vom „totalen Krieg“ als Prozess, es ging ihm also mehr um Totalisierung des Krieges.

Das erste Panel des zweiten Tagungstages war weiterhin dem Kriegsausbruch und den Reaktionen in den Städten gewidmet. Diesmal wurde allerdings ein ganz spezielles Milieu in den Blick genommen: Die Universität. HARALD LÖNNECKER präsentierte einen umfangreichen Quellenkorpus mit Feldpostbriefen korporierter Studenten, die an ein studentisches Kriegsarchiv gesendet worden waren. Insbesondere der Befund, dass diese Studierenden gewohnte Begrifflichkeiten und Sinndeutungen verwendeten, um die unermesslichen Schrecken des Krieges zu erklären, konnte überzeugen. Aus dem Krieg wurde so letztlich eine Mensur anderer Art!

TRUDE MAURER wählte für ihren Vortrag, der sich ebenfalls mit dem akademischen Milieu auseinandersetzte, einen komparativen Ansatz. Während sich deutsche Universitätslehrer als Teil der kämpfenden Nation darzustellen bemühten und ihren Teil für den Kriegsdienst zu leisten, war das Bild in Russland ein anderes. Hier war die Trennung zwischen Volk und Intelligenzja größer. Zwar sah man sich in den Zielen gleich, doch wollte man die Trennung zwischen Volk und Akademikern aufrecht erhalten.

Der dritte Vortrag dieses Panels verließ die Universität und wandte sich der Sommerfrische zu. Während des Ausbruchs des Krieges wurden die zuvor in ganz Europa – und auch darüber hinaus – Geschäftskontakte unterhaltende Familie Kahan-Rosenberg im Deutschen Reich als Angehörige einer feindlichen Nation angesehen und deshalb mit Einschränkungen versehen, so VERENA DOHRN in ihrem Beitrag. Die gebildete und vermögende weitverzweigte jüdische Industriellenfamilie ließ sich davon aber nicht in ihren sommerlichen Urlaubsplänen beeinflussen – und damit war sie nicht alleine. Die Vorstellung, dass mitten im von Chickering so differenziert analysierten „totalen Krieg“ derartige Momente von „Normalität“ möglich waren, wäre sicher der weiteren Diskussion wert. Sowohl um den Alltag in der Heimat besser zu verstehen, als auch um die Definition des Konzepts vom „totalen Krieg“ zu schärfen.

Direkt von der Sommerfrische ging es nun ins Krankenhaus beziehungsweise ins Lazarett. In einem beispielhaften (von MARIA HERMES zur Psychiatrie in Bremen) und einem diskursgeschichtlichen Vortrag (von SUSANNE MICHL) wurde den Deutungen von Ärzten nachgegangen, die mit kriegsbedingten Störungen zu tun bekamen. Hermes machte deutlich, wie in den Krankenakten zu erkennen ist, dass sich die behandelnden Ärzte vor allem „sozialdarwinistischer Erklärungsmuster“ zu Beschreibung der psychischen Krankheiten befleißigten, wohingegen dem Krieg nur eine kleine Rolle bei deren Ausbruch zugeschrieben wurde. Michl machte am Beispiel von Geschlechtskrankheiten und Kriegspsychosen Unterschiede in der Bewertung deutscher und französischer Ärzte aus.

Im Panel zum Thema Trauer hielt CHRISTOPH RASS den am heftigsten diskutierten Vortrag. Die Kontroversen ergaben sich weniger aus den Befunden zum „Sterbegeschehen“ in Osnabrück während des Krieges, die – sehr zum Erstaunen des Referenten im Plenum und auch vom Kommentator – als erwartbar, ja im Grunde bekannt angesehen wurden, sondern wegen der verwendeten Methodik. Rass stützte sich auf Verzeichnisse von Toten aus dem Krieg, wertete diese Totenmeldungen statistisch aus und so gelang es ihm, für Osnabrück genau nachzuzeichnen, wann viele Soldaten aus welchen Stadtbezirken starben und welcher Klasse diese angehörten. Diese sozialstatistische Auswertung des „Sterbegeschehens“ soll in einem weiteren Schritt auch kulturgeschichtlich ausgewertet werden – dies unterblieb allerdings im Tagungsvortrag, sodass sich bei vielen Anwesenden der Eindruck einstellte, dass hier zu viele Ressourcen für einen zu geringen empirischen Ertrag eingesetzt wurden.

DOROTHEE WIERLING wiederum benutzte genau die bei Rass vermisste kulturgeschichtliche Methodik, um ein umfangreiches Briefkonvolut um die bekannte Publizistin Lilly Braun auszuwerten. Besonders interessant ist dabei, wie die Personen aus dem bildungsbürgerlichen Milieu versuchten, den Tod im Feld mit Sinn zu versehen. Diesen entdeckten sie in den meisten Fällen im heldenhaften Tod, ja als quasi antike Opferung.

Der zweite Abendvortrag nahm sich der Geschichte des Tagungsortes an. Mit viel Liebe zum Detail erzählte GERD STEINWASCHER den leicht ermüdeten Zuhörern die Geschichte der Stadt Wilhelmshaven von der Gründung im 19. Jahrhundert, zum bedeutenden Marinestützpunkt und letztlich zum gegenwärtigen Zustand und den Problemen, die sich aus dem Abzug der Marine ergaben.

Am letzten Tag wurden die Deutungen des Krieges zum Thema gemacht. In den ersten beiden Vorträgen standen die beiden einflussreichen Deutungsagenturen, die beiden christlichen Kirchen, im Vordergrund. Während JULIA CAROLINE BOES sich dem Bistum Hildesheim annahm und nach den Konsequenzen des Krieges für die verschiedenen Diasporagemeinden im mehrheitlich protestantischen Gebiet fragte, fragte DIETRICH KÜSSNER nach dem Niederschlag des Krieges in kirchlichen Quellen in verschiedenen protestantischen Gemeinden Braunschweigs. Boes legte dabei vor allem eine Institutionengeschichte in schwerer werdender Zeit vor (sodass die Frage nach den Deutungen etwas in den Hintergrund rückte). Küssner hingegen nutzte seinen Vortrag vor allem dafür, die aktuelle Geschichtskultur zu kritisieren und darauf hinzuweisen, dass in den Gemeinden schon während des Krieges auch die unermessliche Gewalt, ja gar die Kriegsgreuel zum Thema gemacht wurden, die immer noch nicht Eingang in die Schulbücher gefunden hätten.

DAVID CIARLO schloss die Tagung mit dem letzten Vortrag. Er stellte seine Lesweise von Werbeanzeigen vor und während des Krieges vor, anhand derer er nachzuweisen suchte, dass zwar nicht jeder ein Augusterlebnis erlebt habe, dass dieses aber gerade auch durch die kommerzielle Werbung, in der der Kaiser, Soldaten und bald auch schon (phallisch präsentierte) Waffen überproportional häufig vertreten waren, visuell ubiquitär verbreitet wurde – und damit zur kulturellen Vorbereitung des Kriegs beitrug. Unterhaltsam und analytisch dicht gelang es Ciarlo diese „Hegemonie der Vision kriegerischer und kriegstechnischer Motive“ als integralen Bestandteil der die Tagung bestimmenden Leitfigur der „Kriegskultur“ zu kennzeichnen.


In der von CORNELIA RAUH geleiteten Schlussdebatte wurde vor allem auf Desiderata dieser ohnehin schon umfangreichen Tagung hingewiesen. Bei der Konzentration auf die „Kriegskultur“ fielen all jene, die sich dieser verweigerten, aus dem Raster, so eine Stimme aus dem Plenum. Darüber hinaus wurde ein Einbezug der Literatur in die Betrachtung von „Kriegskultur“ gefordert. Außerdem wurde nochmals das Plädoyer nach flüssigeren Zäsuren geäußert, die auch schon Ciarlo in seinem Beitrag wählte: Was seit Sommer 1914 zu beobachten war, war keinesfalls in allen seinen Bestandteilen neu – und endete dann auch nicht 1918!

Tagungsablauf:
Arnd Reitemeier u. Dirk Schumann, Einführung

Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft
Antje Strahl, Stabilisierung statt Wachstum. Zum Perspektivwechsel in der mecklenburgischen Landwirtschaft 1914/15
Stephan Lehnstaedt, Kriegsverwüstungen und die Notwendigkeit der "Nutzbarmachung" im besetzten Polen 1914/15

Stadt und städtische Gesellschaft 1
Christoph Nübel, Kriegsbereit - Mobilmachung und Selbstmobilisierung in Münster, 1914/15
Diana Schweitzer, "Vom Hafen an die Front, vom Herd in die Fabrik, von der Schule auf das Feld..." Kriegsbedingte Wandlungen innerhalb der Lübecker Arbeiterschaft 1914/15?

Abendvortrag
Roger Chickering, Wann wird der Krieg total?

Stadt und städtische Gesellschaft 2
Harald Lönnecker, "Auf in den Krieg, voran zum deutschen Sieg!" Vom akademischen Normal- zum Ausnahmezustand in den Hochschulstädten Göttingen, Braunschweig und Hannover 1914/15
Trude Maurer, Integration in die Volksgemeinschaft oder Exklusivität. Die Angehörigen deutscher und russischer Universitäten in der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs
Verena Dohrn, "Der Aufstieg war sehr schön, nur ist es hier neblig." Osteuropäisch-jüdische Migranten in Deutschland zu Beginn des Ersten Weltkriegs

Gesundheit und Geschlecht
Maria Hermes, Zwischen Mobilmachungsneurose und Hysterie. Psychiatrie in Bremen zu Beginn des Ersten Weltkriegs
Susanne Michl, 1914: Etablierung einer neuen Geschlechterordnung? Die Debatten deutscher und französischer Ärzte im Vergleich

Trauer
Christoph Rass, Die Stadt als Erfahrungsraum des Todes auf dem "Schlachtfeld" in der Anfangsphase des Ersten Weltkrieges
Dorothee Wierling, Kriegsgewalt in der Familienkommunikation 1914/15 - das Beispiel der Familie Braun 

Abendvortrag
Gerd Steinwascher, Wilhelmshaven-Rüstringen. Glanz und Elend einer preußisch-oldenburgischen Doppelstadt im Ersten Weltkrieg

Deutungen
Julia Caroline Boes, Die Anfangsphase des Ersten Weltkriegs im Bistum Hildesheim
Dietrich Küssner, Die Anfangsphase des Ersten Weltkriegs im Spiegel von Kirchenchroniken, Gemeindebriefen und Amtskonferenzen in der Braunschweigischen Landeskirche
David Ciarlo, Marketing War. German Visual Advertising 1910-1916

Schlussdiskussion (moderiert durch Cornelia Rauh)