Wenn eine Habilitationsschrift in der
renommierten Wissenschaftsreihe bei Suhrkamp erscheint, kann das zwei
Gründe haben. Zum einen wäre das sowohl die stilistische als auch
die akademische Brillanz des vorgelegten Werkes. Zum anderen wäre
diese Form der Adelung aber auch betriebswirtschaftlich zu erklären
– der Verlag ginge in diesem Fall davon aus, dass der
Personenkreis, der mit der inzwischen sprichwörtlichen
Suhrkamp-Kultur groß geworden ist, ein gesteigertes Interesse an
diesem Buch haben könnte. Letzteres trifft bei Reichardts Buch ohne
Zweifel zu, denn in seiner Studie geht es genau um sie (und auch das
Argument der herausragenden Qualität wird in weiten Teilen
eingelöst).
Worum geht es Reichardt also in dieser
fast tausendseitigen Schrift: Der Autor hat sich die
unterschiedlichsten Schattierungen des linksalternativen Lebens der
1970er und frühen 1980er Jahre vorgenommen und er fragt weniger nach
den allbekannten und politikgeschichtlich schon recht gut erforschten
politischen Zielen der Gruppierungen, wie sie sich in Anti-AKW-,
Friedens- und Frauenbewegung ausdrückten. Reichardt verlässt die
eingefahrenen Bahnen politikgeschichlicher Forschung (die neben
wirtschaftsgeschichtlichen Fragen) noch immer die Erforschung der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominieren – und das zurecht,
ging es doch zunächst darum, die groben Linien dieser Epoche zu
vermessen, bevor ausgehend von den entsprechenden Befunden auch
anderen Themen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Reichardt
geht nun der Frage nach, wie die Personen lebten, die sich in
Brokdorf auf Demonstrationen gegen die Atomindustrie, in Bonn gegen
die NATO-Nachrüstung oder überall gegen die männliche
Vorherrschaft in Familien und Arbeitsleben engagierten. Wie
gestalteten sie ihren Alltag? Wie lebten sie? Wie arbeiteten sie? Und
vor allem: Wie sprachen sie darüber?
Äußerst überzeugend wählt Reichardt
die beiden Begriffe „Authentizität“ und „Gemeinschaft“, um
sich sowohl die Lebensstile als auch Fraktionierungen innerhalb des
linksalternativen Milieus zu erschließen. In unterschiedlichen
Themenfeldern – von der linksalternativen Presse über
Wohngemeinschaften bis hin zu Frauen- (und Männer-)bewegung,
Kindererziehung, alternativen Betrieben, Spiritualität und
Drogenerfahrungen – sucht Reichardt nach der Einforderung von
authentischen Erfahrungen, Arbeitsverhältnissen, Beziehungen, die
den Zwängen der als entfremdet wahrgenommenen bundesrepublikanischen
Gesellschaft mit ihrem Streben nach Konsum und Karriere
entgegengehalten wurden.
Von K-Gruppen und Resten der 68er als
unpolitische Privatiers geschmäht, sahen die Angehörigen des
alternativen in dem, was sie taten, doch eine neue Form des
Politischen, so Reichardt. Überzeugend argumentiert Reichardt, dass
mit diesem neuen Lebensstil jedoch keineswegs das Ende aller Zwänge
eingeläutet wurde – vielmehr wurden neue Zwänge aufgebaut, die
oftmals unbewusst eine enorme Wirkmächtigkeit entfalteten. Allen
voran, der Zwang zur allgegenwärtigen Selbstoffenbarung, zur
Öffentlichmachung privatester Details unter der Maßgabe: „Sei
authentisch!“
Kritisch anzumerken wären bei
Reichardts Studie einige Redundanzen, die sich wohl vor allem daraus
ergeben, dass sich die unterschiedlichen Kapitel auch separat lesen
lassen können sollen, während die behandelten Themen jedoch nicht
immer trennscharf zu scheiden sind. Man kann sich jedenfalls gut
vorstellen, dass sich an den unterschiedlichsten Universitäten in
Seminaren zu den 1970er und 1980er neben der thesenhaft zuspitzenden
Studie von Doering-Manteuffel und Raphael („Nach dem Boom“)
Studierende auch mit einzelnen Kapiteln aus Reichardts Studie
beschäftigen werden – und für einen derartigen Kontext eignen
sich die Kapitel sicher ganz hervorragend. Noch problematischer
erscheint mir allerdings der Umstand, dass das von Reichardt (sicher
zurecht) als bunt beschrieben Milieu in der wissenschaftlichen
Bearbeitung ganz ohne Bildteil auskommen muss. Ein paar wenige Fotos
aus selbstverwalteten alternativen Betrieben oder Wohngemeinschaften,
nur wenige Reproduktionen aus der von Reichardt so überzeugend
beschriebenen alternativen Presse, und schon wäre die Studie noch
anschaulicher geworden, als sie es ohnehin schon – trotz ihres
wissenschaftlichen Niveaus und ihres beträchtlichen Umfangs – ist!