Montag, 1. Dezember 2014

„Ein Selbstzwang, der sich als Freiheit ausgab.“ Zu Sven Reichardts monumentaler Studie „Authentizität und Gemeinschaft“.

Wenn eine Habilitationsschrift in der renommierten Wissenschaftsreihe bei Suhrkamp erscheint, kann das zwei Gründe haben. Zum einen wäre das sowohl die stilistische als auch die akademische Brillanz des vorgelegten Werkes. Zum anderen wäre diese Form der Adelung aber auch betriebswirtschaftlich zu erklären – der Verlag ginge in diesem Fall davon aus, dass der Personenkreis, der mit der inzwischen sprichwörtlichen Suhrkamp-Kultur groß geworden ist, ein gesteigertes Interesse an diesem Buch haben könnte. Letzteres trifft bei Reichardts Buch ohne Zweifel zu, denn in seiner Studie geht es genau um sie (und auch das Argument der herausragenden Qualität wird in weiten Teilen eingelöst).

Worum geht es Reichardt also in dieser fast tausendseitigen Schrift: Der Autor hat sich die unterschiedlichsten Schattierungen des linksalternativen Lebens der 1970er und frühen 1980er Jahre vorgenommen und er fragt weniger nach den allbekannten und politikgeschichtlich schon recht gut erforschten politischen Zielen der Gruppierungen, wie sie sich in Anti-AKW-, Friedens- und Frauenbewegung ausdrückten. Reichardt verlässt die eingefahrenen Bahnen politikgeschichlicher Forschung (die neben wirtschaftsgeschichtlichen Fragen) noch immer die Erforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominieren – und das zurecht, ging es doch zunächst darum, die groben Linien dieser Epoche zu vermessen, bevor ausgehend von den entsprechenden Befunden auch anderen Themen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Reichardt geht nun der Frage nach, wie die Personen lebten, die sich in Brokdorf auf Demonstrationen gegen die Atomindustrie, in Bonn gegen die NATO-Nachrüstung oder überall gegen die männliche Vorherrschaft in Familien und Arbeitsleben engagierten. Wie gestalteten sie ihren Alltag? Wie lebten sie? Wie arbeiteten sie? Und vor allem: Wie sprachen sie darüber?

Äußerst überzeugend wählt Reichardt die beiden Begriffe „Authentizität“ und „Gemeinschaft“, um sich sowohl die Lebensstile als auch Fraktionierungen innerhalb des linksalternativen Milieus zu erschließen. In unterschiedlichen Themenfeldern – von der linksalternativen Presse über Wohngemeinschaften bis hin zu Frauen- (und Männer-)bewegung, Kindererziehung, alternativen Betrieben, Spiritualität und Drogenerfahrungen – sucht Reichardt nach der Einforderung von authentischen Erfahrungen, Arbeitsverhältnissen, Beziehungen, die den Zwängen der als entfremdet wahrgenommenen bundesrepublikanischen Gesellschaft mit ihrem Streben nach Konsum und Karriere entgegengehalten wurden.

Von K-Gruppen und Resten der 68er als unpolitische Privatiers geschmäht, sahen die Angehörigen des alternativen in dem, was sie taten, doch eine neue Form des Politischen, so Reichardt. Überzeugend argumentiert Reichardt, dass mit diesem neuen Lebensstil jedoch keineswegs das Ende aller Zwänge eingeläutet wurde – vielmehr wurden neue Zwänge aufgebaut, die oftmals unbewusst eine enorme Wirkmächtigkeit entfalteten. Allen voran, der Zwang zur allgegenwärtigen Selbstoffenbarung, zur Öffentlichmachung privatester Details unter der Maßgabe: „Sei authentisch!“


Kritisch anzumerken wären bei Reichardts Studie einige Redundanzen, die sich wohl vor allem daraus ergeben, dass sich die unterschiedlichen Kapitel auch separat lesen lassen können sollen, während die behandelten Themen jedoch nicht immer trennscharf zu scheiden sind. Man kann sich jedenfalls gut vorstellen, dass sich an den unterschiedlichsten Universitäten in Seminaren zu den 1970er und 1980er neben der thesenhaft zuspitzenden Studie von Doering-Manteuffel und Raphael („Nach dem Boom“) Studierende auch mit einzelnen Kapiteln aus Reichardts Studie beschäftigen werden – und für einen derartigen Kontext eignen sich die Kapitel sicher ganz hervorragend. Noch problematischer erscheint mir allerdings der Umstand, dass das von Reichardt (sicher zurecht) als bunt beschrieben Milieu in der wissenschaftlichen Bearbeitung ganz ohne Bildteil auskommen muss. Ein paar wenige Fotos aus selbstverwalteten alternativen Betrieben oder Wohngemeinschaften, nur wenige Reproduktionen aus der von Reichardt so überzeugend beschriebenen alternativen Presse, und schon wäre die Studie noch anschaulicher geworden, als sie es ohnehin schon – trotz ihres wissenschaftlichen Niveaus und ihres beträchtlichen Umfangs – ist!

Dienstag, 16. September 2014

Quo Vadis NS-Forschung: Volksgemeinschaft, Hitlermythos oder doch "fatale Attraktion"?

Thomas Rohkrämer macht mit seinem neuen Buch über die "fatale Attraktion des Nationalsozialismus" eines deutlich - wie man trotz einer wichtigen und interessanten Fragestellung ein Buch schreiben kann, dessen es nicht bedurft hätte. Liegt es daran, dass der Autor mit einer schier nervtötenden Penetranz seine eigene Wortschöpfung immer wieder auftischt, auf dass man sie dann auf jeden Fall bei nächstmöglicher zitieren möge. (Dass sie dazu noch grammatikalisch windschief ist, geht es doch Rohkrämer mehr um "fatale Attraktivität" des Nationalsozialismus und nicht um "Attraktionen", sei nur am Rande bemerkt.); sei es, dass er trotz dieser neuerlichen Begrifflichkeit nichts Neues zu sagen weiß - in jedem Fall fragt man sich schon, ob es dieser gut 330 Textseiten bedurft hätte, welchen Erkenntnisgewinn man bei sich selbst verzeichnen kann und was nun genau Rohkrämers Thesen sind, die die historische Forschung zum Nationalsozialismus voranbringen sollen.

Dieser unbefriedigende Eindruck ergibt sich vor allem daraus, dass Rohkrämer zwar in guter wissenschaftlicher Manier in der Einleitung die Studien und Forschungsrichtungen zum Nationalsozialismus benennt, von denen er sich mit seiner eigenen Arbeit abzusetzen gedenkt - was dann im Hauptteil folgt, ist allerdings nichts anderes als die wenig inspirierte Wiedergabe eben genau dieser Arbeiten (zuweilen noch in nervtötend flapsiger Sprache, in der aus "Villen" "Villas" werden und immerzu "gemeckert" wird, als gäbe es dafür kein weniger umgangssprachliches Wort).

Alys Ansatz sei zu materialistisch, Kershaw beziehe sich zu ausschließlich auf Hitler und den um ihn herum konstruierten Mythos und auch die augenblicklich florierende Volksgemeinschaftsforschung (deren innovatives Potential durchaus auch in vielen Punkten fraglich ist) reicht Rohkrämer ebenfalls nicht - so liest sich jedenfalls seine Einleitung. Und was bekommen wir dann zu lesen? Eine Kurzfassung der Forschungen Kershaws; einen Überblick über die materiellen Versprechen an die "Volksgenossen"; Darstellungen über die freudige Einpassung in die "Volksgemeinschaft", die nicht nur Versprechungen macht, sondern auch Forderungen an den einzelnen stellt. Alles abgeschmeckt mit ein wenig Benjamin und dessen (durchaus überzeugender) These von der "Ästhetisierung der Politik", die im Nationalsozialismus neue Früchte getragen hat. Auch das ist nicht neu, den "schönen Schein" des Nationalsozialismus haben uns schon andere hinter dem dunklen Schleier der Massenverbrechen hervorgeholt.

Um positiv zu schließen, kann man Rohkrämer attestieren, eine flüssig geschriebene Zusammenfassung der Forschungen zum Nationalsozialismus als "Zustimmungsdiktatur" geliefert zu haben - mehr nicht. Dies ist durchaus einen anerkennenswerte Leistung, wenn nicht die Versprechungen in der Einleitung auf mehr hindeuteten. Dass darüber hinaus die Quellenauswahl wenig innovativ ist - von Tagebuchaufzeichnungen über Memoiren bis hin zu den Abhörprotokollen, die von Neitzel und Welzer analysiert wurden, alles nur immer wieder zitiertes und bekanntes Material -, fügt sich ins insgesamt wenig überzeugende Gesamtbild.

Rezension zu: Thomas Rohkrämer, Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus. Über die Popularität eines Unrechtsregimes, Paderborn 2013.

Samstag, 6. September 2014

"Der Keim der wahren Freiheit, gedeiht in Unfreiheit." Lutz Seiler hat mit seinem Roman "Kruso" den wohl bedeutendsten literarischen Beitrag zum Ende der DDR geschrieben

Sucht das Feuilleton noch immer den Roman zum Ende der DDR? Die Suche hat in diesem Herbst, 25 Jahre nach Öffnung der Grenzen, ein Ende. Lutz Seilers „Kruso“ ist die wohl beste bislang erschienene Annäherung an die Geschehnisse im Jahr 1989.

Weniger das inzwischen sprichwörtliche Leben der Anderen, sondern ein anderes Leben, das richtige Leben im falschen, die Freiheit in der Unfreiheit sind Seilers Themen. Geschickt siedelt er seine (autobiographisch gefärbte) Geschichte im äußersten Randgebiet der DDR an, auf dem kleinen Raum der Ferieninsel Hiddensee suchen seine Akteure die Freiheit – und werden von der Grenzöffnung überrascht.

Die Insel wird im Roman zur Metapher; jeder sucht sich seine Enklave möglichst großer Freiheit. Die historisch belegten Einquartierungen von Besuchern auf der Insel, die der Enge der DDR entkommen wollten, werden mit esoterisch anmutenden Initiationsriten versehen und so zum Eingangstor in eine andere Welt.

Das Leben der Hauptfigur Edgar Bendler, dessen Freundin von einer Straßenbahn überfahren wurde, gerät aus den Fugen. Statt der vielversprechenden Fortsetzung des Germanistikstudiums findet sich Edgar (genannt Ed) mittellos auf Hiddensee wieder, der Insel, deren Namen den namensgebenden Protagonisten Krusowitsch (genannt Kruso) zu allerlei Wortspielen einlädt, bedeute „hidden“ doch im Englischen versteckt. Ed wird Abwäscher in einer Ausflugsgaststätte, taucht immer weiter in die Geheimnisse der Insel ein, erlebt das Ankommen und Abreisen von neuen Besuchern, die auch für Ed amourös-existentielle Abenteuer bereithalten, und freundet sich mit Kruso an.

Wir schreiben das Jahr 1989, die Massenfluchten, über die der Deutschlandfunk im immer laufenden Küchenradio berichtet, hinterlassen auch ihre Spuren auf Hiddensee. Die „Besatzung“ schrumpft, immer mehr Mitarbeiter aus der Gaststätte entschließen sich zur Flucht über das Meer bis auf das dänische Festland – und nicht alle schaffen diese gefährliche Reise.


Die Idee, die Freiheit vor Ort zu ermöglichen, scheitert, die Verlockungen des Westens sind zu stark. Seilers Roman bezieht seine Stärke zunächst aus dem Raum, in dem er angesiedelt ist: Hiddensee, nicht mehr ganz DDR (trotz Grenztruppen und „Hygieneinspektoren“ mit verdächtigen Staatssicherheitsallüren), aber noch nicht Westen, so liegt die Insel im Zwischenraum – in dem Zwischenraum, in dem die von Kruso so viel gepriesene Freiheit zu finden ist. In magisch-realistischem Stil (als letzter Abgesang auf den realsozialistischen Realismus der Literatur der DDR?) beschreibt Seiler diese Exterritorialität als Möglichkeit, sich zumindest den Sommer über, frei zu fühlen und frei zu leben. Diese Suche nach etwas Anderem, nach dem anderen Leben jenseits von staatlicher Gängelung und kapitalistischer Verführung gibt Seiler in seinem Roman Raum. Eine Suche, die durch die Wiedervereinigung jäh unterbrochen wurde und an die zum Ende hin sowieso nur noch der daran psychisch zugrunde gehende Kruso und Ed geglaubt zu haben scheinen.

Seiler schließt mit einem Epilog, in der die Suche weitergeht. Die DDR ist inzwischen - sinnbidlich - untergegangen, Ed hingegen lässt der Gedanke an die bei ihren Fluchtversuchen ums Leben gekommenen Flüchtlinge nicht los und beginnt die Recherche; allein für diese letzten dreißig Seiten lohnt die Lektüre des Buches, gehen sie doch in einem mehr als überzeugten Reportage-Stil den Versäumnissen der wiedervereinigten Erinnerungskultur in Bezug auf diese Opfergruppe mehr als überzeugend nach.

Die Homepage des Suhrkamp-Verlages zum Roman

Freitag, 5. September 2014

Kindliche Perspektiven auf die Grausamkeit des Krieges. Eine Ausstellung in der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße zu polnischen Kinderzeichnungen aus dem Jahr 1946

Wesen ohne Hals und ohne Unterkörper, dafür mit direkt am Brustkorb ansetzenden Beinen und langen Armen – und Mützen, auf denen ein Hakenkreuz zu sehen ist. Eckige Häuser, denen wild lodernde Flammen aus dem Dach steigen, gezeichnet mit Buntstift und roter Tinte. Davor stilisierte Figuren, zeichnerisch zwischen Strichmännchen und einem altersgerechten Realismus angesiedelt.

Wenn Kinder den Krieg sehen und anschließend zeichnen – was kommt dabei heraus? Die Ausstellung „Kinder im Krieg. Polen 1939 – 1945“, die in der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße in Braunschweig gezeigt wird, versucht Anworten auf diese Frage zu geben. Oder besser: Polnische Kinder, 1946 durch ein Preisausschreiben einer Zeitung dazu animiert, geben die Antwort selbst, der Gedenkstätte kommt nur das Verdienst zu, diese Quellen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Und sie sind es wert, von möglichst vielen Personen gesehen zu werden: nicht nur ihre relative Unbekanntheit (zumindest in Deutschland, in Polen werden sie wohl schon häufiger als Quellen für die historische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg verwendet), sondern auch die kindlich-künstlerische Verarbeitung des Krieges in diesen Bildern machen diese (zugegeben) eher kleine Ausstellung mehr als sehenwert.

Die begleitenden Texte sind auf das Notwendigste beschränkt, die Bilder sollen gleichsam für sich selbst sprechen – und das tun sie. Kurze Hintergrundinformationen zur brutalen deutschen Besatzungspolitik machen deutlich, dass die grausam-grotesken Szenen keineswegs der infantilen Phantasie mit ihrer Vorliebe für brutal-drastische Darstellungen entsprungen sind. Mit den Mitteln des schulischen Kunstunterricht versuchen Kinder (zum Teil noch Erstklässler) auf ihre Art ihren Erlebnissen einen (im kunstgeschichtlichen Sinne) realistischen Ausdruck zu geben. Dass diese Bilder dann eher an die Werke eines George Grosz erinnern als an gegenwärtige Kinderzeichnungen mit einladenden Spitzgiebelhäusern und lachenden Sonnen, ist dem Erfahrungshintergrund der jungen Künstler geschuldet. (Und belegt dialektisch betrachtet wieder einmal, dass George Grosz einer der größten realistischen Maler des 20. Jahrhunderts war, und das gerade weil er die Welt nicht malte, wie sie aussah, sondern wie sie war!)

Nach den traumatischen Erfahrungen der hier ausgestellten Kinder verwundert es nicht, dass das Material auch polnischen Psychologen dabei helfen sollte, mit den Kindern zu arbeiten, um ihnen so ein möglichst normales Leben nach dem Krieg zu ermöglichen. Und hier beginnt auch schon die mehr als spannende Nachgeschichte der Quellen, die die Kuratorin der Ausstellung, Iris Helbing, in ihren einleitenden Worten deutlich machte: Nachdem tausenden von Zeichnungen bei der Zeitung eingegangen waren, ja nachdem selbst ganze Klassen dazu ermuntert worden waren, ihre Erfahrungen zeichnerisch zu Papier zu bringen, wanderte ein Großteil der Bilder in ein polnisches Archiv. 100 von ihnen allerdings kamen, als Dankeschön für die tatkräftige Unterstützung, zu einem Helfer nach Dänemark und wurden nach dessen Tod der polnischen Botschaft in Kopenhagen übergeben – genau die Bilder sind es nun, aus denen die Ausstellung eine Auswahl präsentiert.


Zum Abschluss noch ein paar geschichtsdidaktische Überlegungen: Von der Kuratorin wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ausstellung besonders für Schulklassen geeignet sei, um sich über die Zeichnungen vermittelt einen Zugang zum Thema Zweiter Weltkrieg zu ermöglichen. Die Grundannahme dabei: Schüler könnten sich eher mit Quellen identifizieren, die von Personen ihres Alters produziert worden seien. Aber ist das wirklich so? Mir scheint das eine noch immer zu wenig untermauerte Annahme vieler geschichtsdidaktischer Projekte sowohl des schulischen Unterrichts als auch außerschulischer Lernorte zu sein. Hier sollten empirische Studien klären, ob es tatsächlich der Fall ist. Und zweitens sollte gefragte werden, ob Identifikation überhaupt das Ziel sein kann …  

Informationen der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße zur Ausstellung

Sonntag, 31. August 2014

Ruf aus der Gruft. Zu Hans-Ulrich Wehlers Essayband "Die Deutschen und der Kapitalismus"

Seinem Freund und Generationsgenossen Habermas entsprechend, der mit seinen immer wieder in Buchform zusammengefassten "Kleinen Schriften" kürzere Beiträge zum Zeitgeschehen publiziert, ist es auch bei Wehler gute Tradition, dass seine verstreut erschienenen Beiträge in regelmäßigen Abständen gebündelt erscheinen. Was der C.H.-Beck-Verlag in Wehlers Todesjahr nun publiziert ist Wehler at his best - und at his worst!

Dass man sich bei einigen der publizierten Beiträge fragen muss, ob es tatsächlich nottat, diese nochmals zu veröffentlichen - geschenkt! Sei es dem antiquarischen Interesse mancher Wehler-Fans geschuldet, wirklich die gesammelten Werke letzter Hand des Bielefelder Großmeisters irgendwann beisammen zu haben (und seien sie noch so unbedeutend nach dem Datum ihres Erscheinens), sei es weil der Band voll werden musste, und Besseres noch nicht vorlag. Wehlers Rezensionen zu dickleibigen militärgeschichtlichen Publikationen, zu Conzes "Suche nach Sicherheit" oder auch seine Kritik an der Aufgabe des Frias durch die finanzierenden Institutionen mögen launig zu lesen sein, doch rechtfertigt dies nicht die Kodifizierung im Buch.

Die schwächeren Texte im Buch fallen aber gerade deshalb so negativ auf, weil es tatsächlich essayistische Glanzstücke enthält, die nicht nur nicht genug Leser haben können, sondern im Grunde jedem Studierenden der Geschichtswissenschaften ins Stammbuch geschrieben gehören: Die unterschwellige Botschaft der herausragenden Stücke des Bandes ist eindeutig: Lest, auch über die Grenzen des eigenen Faches hinaus! Möglichst viel und möglichst genau! Und zweitens: Nutzt das so erworbene Wissen nicht allein, um in eurem Fach zu glänzen, sondern als Hebel zur Kritik gegenwärtiger gesellschaftlicher Konstellationen und Strukturen!

Allen voran ist Wehler erneut ein großer Theoretiker und Kritiker gesellschaftlicher Ungleichheit - und in dieser Rolle mehr als überzeugend. Hier zeigt sich die große Stärke der Bielefelder Sozialgeschichtsschreibung: Dem postmodernen Gerede von sich verflüssigenden Grenzen zwischen Milieus, der Auflösung von Klassenstrukturen und der (schon seit den 1950er Jahren postulierten) Nivellierung hält Wehler mit nicht müde werdender Vehemenz die Beständigkeit von Klassen vor! Akribisch rechnet er die Einkommens- und insbesondere die Vermögensunterschiede zwischen ganz oben und ganz unten vor - die sich keinesfalls mit der Zeit 'nivellierten', sondern ganz im Gegenteil noch weiter wachsen.

Und auch an anderer Stelle, dem namengebenden Aufsatz des Sammelbandes, macht Wehler eindrücklich deutlich, was das Wissen um die Geschichte für die Gegenwart bedeuten kann. Gibt es einen deutschen Sonderweg des Kapitalismus? Wie sah der aus? Und warum wurde er durch das anglo-amerikanische Laissez-Faire des Neoliberalismus ersetzt? Die deutsche Tradition der staatlichen Einhegung des Kapitalismus vom Kameralismus bis zum Ordoliberalismus durchschreitet Wehler in einem wirtschaftstheoretischen Parforceritt. Gerade bei derart komplexen Zusammenhängen fällt auf, dass der Klappentext nicht übertreibt, wenn er Wehler als Essayisten "von Rang" kennzeichnet. Genau das ist er, und hier macht er deutlich warum: Pointierte Darstellung verbindet sich mit ungeheurer Belesenheit und Meinungsstärke und einem Quentchen Streitlust zu einem selten gewordenem Amalgam!

Ein wenig beruhigt dann auch die erneute Lektüre des Wehler'schen Eingreifens in die Sarrazin-Debatte: Wehler wird in der Nachbetrachtung häufig als Verteidiger Sarrazins beschrieben, umso erfreulicher ist aber nun nochmals lesen zu können, dass er dessen biologistische Thesen als genau das brandmarkt, was sie sind: Blanker, sich wissenschaftlich gerierender Blödsinn für eine von Abstiegsängsten geplagte Mittelschicht! Dass er versucht, die um diesen kruden Thesenhaufen enstandene Diskussion dazu zu nutzen, über Ungleichheit und Migration öffentlich debattieren zu wollen, kann ihm allerdings als problematische Annäherung an einen noch problematischeren Gewährsmann vorgeworfen werden.

Mit diesem letzen Ruf aus der Gruft macht Wehler nochmals deutlich, was die bundesrepublikanische Öffentlichkeit mit ihm verloren hat.

Montag, 4. August 2014

"Wenn man sich nicht von vornherein dagegen sperrt." Zu Helmuth Kiesels Lektüre von Hitlers "Mein Kampf"

Früher habe ich mir die Arbeitsteilung zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft immer so gedacht: Die LiteraturwissenschaftlerInnen dürfen die schönen Dinge lesen, wohingegen sich die Geschichtswissenschaft mit all dem auseinanderzusetzen hat, was übrigbleibt, was Aufschlüsse über die Funktionsweise von Gesellschaften gibt, was zur Legitimierung von politischen Entscheidungen diente und was in Ideologien wirksam wurde. Dass diese Form der separierten Sphären spätestens seit der Soziologisierung der Literaturwissenschaft (die damit nicht unbedeutend an Relevanz gewann) nicht mehr gilt, ist ebenso wichtig wie begrüßenswert. Zu welchen Folgen es aber führen kann, wenn Literaturwissenschaftler ihren angestammten Bereich der belles lettres verlassen und den Schuttabladeplatz der Literaturproduktion durchsuchen - und vor allem mit den ihr eigenen Methoden analysieren - macht Helmut Kiesel in der heutigen Ausgabe der FAZ deutlich.

Der Autor ist in den letzten Jahren durch seine notorischen Ehrenrettungsversuche für Ernst Jünger aufgefallen, dem er endlich die den flächendeckenden Durchbruch als Schriftsteller verschaffen will, nachdem Jünger selbst in seinem nicht enden wollenden Leben nicht viel mehr zustande gebracht hat, als zahlreiche Umarbeitungen immer desselben Kriegserlebnisses von 1914 bis 1918 mit allem was dazugehört: Blut, Gedärm, der Spaß am Töten und so weiter und so fort. Warum lässt man den über Hundertjährigen nicht endlich das werden, was er sein sollte? Eine Quelle dafür, wie der Erste Weltkrieg in den 1920er Jahren dafür verwendet wurde, den Zweiten vorzubereiten.

Nun geht Kiesel allerdings noch einen Schritt weiter und nimmt sich - uiuiuiu wie verboten - Hitlers "Mein Kampf" camoufliert "in das schwarz-goldene Hochglanzpapier eines Luxusuhrenmagazins" mit auf die Terrasse des Parks eines Ferienhotels und schmiert darin "mit einem moosgrünen Faber-Castell 8B" mit Germanisteneifer herum. Wofür soll man ihn nun mehr schelten? Für die Erwähnung des Luxusuhrenmagazins - die Breitling als letztes Spielzeug des Mannes, dem man die Waffe vorenthält? Für das geschickte Product Placement des Schreibgeräts als Signum der Kulturviertheit? Oder dafür, dass er uns HistorikerInnen vorwirft, das meist ungelesene Buch immer falsch gedeutet zu haben?

Denn - hört hört - Herr Kiesel besitzt ein schier unendliches Einfühlungsvermögen und vermag sich in den Kopf eines potentiellen Hitler-Verehrers hineinzudenken (vielleicht ist das nicht schwer für jemanden, der mehrere Bände Jünger ediert hat) und aus dessen Warte klingt das alles gar nicht mal so abgedroschen, was man bei Hitler zu lesen bekommt. Geschenkt, dem mag so sein, und wer die Geistesgeschichte der 1920er Jahre kennt, der weiß, dass man allenthalben ähnliche Kost zwischen zwei Buchdeckeln erwerben konnte. Dass das alles ungelesen blieb, kann wohl tatsächlich nur schwerlich behauptet werden.

Was folgt, ist eine mit dem propädeutischen Handwerkszeug des Literaturwissenschaftlers vollzogene Untersuchung des Buches mit dem verblüffenden Ergebnis: So schlecht ist es gar nicht...stilistisch gesehen. Auch wenn der Autor (immer niemand anderes als Hitler) sich in Sprachbildern verrenne - worauf es ankomme, sei doch die Wirkung, und auf die verstehe er sich. "Kein Stümper, sondern ein wirkungsbewusster Schreiber", das sei Hitler gewesen, und Kiesel hat es herausgefunden - Heureka!

Kann Kiesel nicht wie alle anderen im Urlaub irgendwelche Regionalkrimis, Herzschmerzgeschichten oder Fantasybücher lesen? Das hätte uns einiges an Ärger (und die Erkenntnis, dass Hitler in den Augen des Germanisten schreiben konnte) erspart. Am Ende geht Kiesel wieder versöhnlich auf die Historiker zu: Gerade weil Hitler so ein stilsicherer Autor war, sei die kommentierte Neuausgabe von "Mein Kampf" unbedingt notwendig, um durch geschickte Anmerkungen die Wirkungskraft des Buches zu unterminieren. 

Als hätten Kiesels kommentierten Jünger-Ausgaben die Anziehungskraft dieses rechten Klassikers abgebaut.

Freitag, 1. August 2014

"An die Einwohner Hannovers. Flaggenschmuck heraus!" Ausstellungsbesuch: Heimatfront Hannover. Kriegsalltag 1914-1918 im Historischen Museum Hannover

Der Einstieg ist elegant gewählt: Eine überzeugend kurze biographische Hinführung zum Thema. Eine auf wenige Informationen beschränkte Lebensbeschreibung eines Kriegsfreiwilligen ergänzt durch - und hier ist ein Museum einem Buch überlegen - Artefakte aus dem Besitz des Soldaten. Nähe und Fremde, private Habseligkeiten und große Politik auf dem engen Raum einer Ausstellungsvitrine versammelt. So kann Geschichtsvermittlung funktionieren!

Und sie funktioniert auch in den übrigen Ausstellungsräumen. Die betont zurückhaltenden Informationstafeln stellen die Objekte und Bilder in den Vordergrund. Der Erste Weltkrieg wird nicht isoliert dargestellt, sondern in die allgemeinen Tendenzen des Kaiserreichs - und vor allem auch der am Beginn der Blüte stehenden Stadt Hannover - verortet. Militarismus und Lebensreform - beides Elemente, die die Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert prägten, beide nimmt die Ausstellung auf. Natürlich fragt man sich, was nun das Besondere an Hannover war? Was rechtfertigt für den nicht nur an Lokalgeschichte interessierten Besucher eine Konzentration gerade auf diese Stadt? Vielleicht gerade der Umstand, dass es in Hannover nicht anders war, als andernorts? Dass Hannover gerade beispielhaft für alle deutschen Großstädte gelten kann? Wahrscheinlich, und die in Hannover besonders zelebrierte und in zahlreichen kitschigen Auswüchsen ausgelebte Hindenburg-Begeisterung war hier nur unbedeutend größer als in vergleichbaren Städten, auch wenn der damals schon greise Feldherr ausgerechnet in Hannover lebte und sich zum Ehrenbürger machen und mit einer Villa bedenken ließ.

Die Ausstellung wird dem selbstgesteckten Anspruch gerecht, sich der "Heimatfront" aus den unterschiedlichsten Perspektiven anzunähern. Von den verschiedenen Wegen zur Mobilisierung von Ressourcen - Kriegsanleihen, Spenden und die kriegsbedingte erste Blüte des Recycling-Gedankens -, über die Frage nach den neuen Rollen für Frauen bis hin zum Wandel in der Ausbildung er jungen Rekruten mit einem eigenen dem Schützengrabensystem in Frankreich und Belgien nachgebildeten Übungsfeld in der Vahrenwalder Heide (die für 50 Pfennig auch zu besuchen war; für die Schlachtfeldtouristen, denen der Weg an die Front doch zu gefährlich war?) wird alles gezeigt und durch Objekte veranschaulicht, was von Interesse sein könnte. Und immer wieder kommen dann doch niedersächsische Besonderheiten in den Blick, für die auch der zeitliche Rahmen von 1914-1918 verlassen wird - so bei der Analyse der Werke und vor allem der Instrumentalisierung des Lebens des im Krieg gefallenen Hermann Löns insbesondere im Nationalsozialismus.

Und auch über die lange Zeit angenommene Kriegsbegeisterung kann man sich ein differenzierteres Urteil erlauben. So wurde wird ein Plakat ausgestellt, dass auf rotem Grund die Hannoveraner dazu auffordert, doch endlich den Flaggenschmuck herauszuhängen: "Fort mit der zweifelnden und kleinmütigen Stimmung." Es bedurfte also massiver Propaganda, um das zu erzeugen, was bald schon die "Kriegsbegeisterung" genannt wurde.

Eine sehenswerte Ausstellung mit einem lesenswerten Katalog.

Homepage der Ausstellung

Freitag, 18. Juli 2014

„Treffen sich fünf zur Kneipenschlägerei und einer hat 'nen Baseballschläger dabei …“ Zu einem Vortrag Herfried Münklers zum Ersten Weltkrieg

Überraschend war wohl nur der große Andrang, den Münkler generieren konnte. Der Saal war überbesetzt, Zwischenwände mussten entfernt werden, um so mehr Raum für die unablässig nachströmenden Zuhörer zu schaffen. Was Münkler bot, war dann ein Extrakt seines augenblicklichen Sachbuchbestsellers, ein amüsantes Potpourri aus Anekdoten und pointiert zugespitzten Geschichten und für den Orientierungswilligen gab es gleich noch ein paar Lehren für die Gegenwart mit auf den Weg.

Ist die politikwissenschaftliche Perspektive schuld? Schuld daran, dass Münkler im freien Vortrag sehr viel über das Erleben von Politikern und militärischen Eliten, aber wenig über den Rest der Gesellschaft auszusagen weiß? Anstatt Wehler (Max Weber habe ihn selig!) die Kritik am eigenen Buch vorzuhalten und seinen Tod als gerechte Strafe für diesen Verriss zu bewerten (Münkler hat also nicht nur Kontakt zum Bundespräsidenten, sondern offenbar auch nach ganz oben), hätte er sich vielleicht doch eher in dessen Konzepte zur Sozialgeschichte einarbeiten sollen. Nicht, um dann die inzwischen angestaubten Thesen vom Deutschen Sonderweg zu wiederholen, sondern vielleicht um anzuerkennen, dass zur Geschichte – auch im Krieg – mehr gehört als das, was Generäle, Monarchen und Diplomaten sich untereinander in Depeschen mitzuteilen haben.

Ohne mit der Wimper zu zucken, kehrt Münkler zur positivistischen Politikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zurück, fragt wenig nach sozialen Strukturen und schon gar nicht nach kulturell wirksamen Phänomenen, sondern bleibt da stehen, wo es eigentlich interessant wird. Das Gleich ließe sich auch über seine Art der Militärgeschichtsschreibung sagen: Eigenartig blutleer – im wahrsten Sinne des Wortes – erfahren die überraschend zufriedenen Zuhörer (zumeist im fortgesetzten Alter) viel über Taktik, Schlachtplanungen und Verbesserungen der Kriegstechnik. Die neueren Ansätze der Militärgeschichte, die diesen Forschungsbereich aus der selbst gewählten Isolation technikaffiner Panzerfreunde geführt haben, kommen überhaupt nicht vor, oder zumindest aber zu kurz.

Warum die Soldaten nicht aufhörten zu kämpfen, fragt Münkler, und beantwortet die Frage mit taktischen Lernprozessen auf Offiziersebene, die dann doch irgendwie so erfolgreich gewesen seien, dass man meinte, das Weiterkämpfen lohne sich - und werde belohnt. Leonhards durchaus überzeugende, kulturgeschichtlich argumentierende These, dass man die Perspektive der Schützengrabenkameradschaft für die Fortsetzung des Krieges nicht außer acht lassen darf, wird von Münkler nicht einmal diskutiert (was praktisch ist, erspart man sich doch so die Notwendigkeit, sie widerlegen zu müssen).


Münkler kommt das Verdienst zu, sowohl in seinem Buch als auch bei seinem Vortrag gewinnend erzählen zu können und so viele Menschen für historische Themen – wie eben den Ersten Weltkrieg – zu interessieren. Dass er diese Erzählung mit kurzschlüssigen Aktualisierungen würzt – geschenkt, so läuft das Geschäft des Geisteswissenschaftlers auf dem Basar der Medien. Nichts desto trotz teile ich Wehlers Einsicht, dass das Buch, das wirklich als der wichtigste Beitrag zum 100jährigen Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs bezeichnet werden kann, Leonhards Studie ist.


Freitag, 11. Juli 2014

Geschichte und Gesellschaft – Zum Tod von Hans-Ulrich Wehler

Wird auch Wehlers Konzept der Gesellschaftsgeschichte augenblicklich als weit weniger einflussreich für die Geschichtswissenschaft beschrieben, als seine mediale Präsenz es vermuten lässt, so muss doch festgestellt werden, dass er Meilensteine hinterlassen hat, die bleiben werden.

Ganz im Sinne der von Brecht einmal für seinen eigenen Grabstein eingeforderten Inschrift: „Er hat Vorschläge gemacht“, kann diese so bescheiden wirkende Formulierung auch für Wehler gelten. Nur hat Wehler nicht nur Vorschläge gemacht, wie die Geschichtswissenschaft sich aus den obrigkeitshörigen Gefilden der Politikgeschichte lösen könnte, sondern er verteidigte diese ebenso wortgewaltig wie streitlustig. Dafür gebührt ihm noch heute der Dank nachrückender HistorikerInnengenerationen!

Auch wenn die Entwicklung des Faches über zahlreiche der von Wehler postulierten Maximen hinweggegangen sein mag, auch wenn seine Art der Geschichtsschreibung von den Strukturen her vielen als blut- und menschenleer erscheinen mag, so sollten sein Fleiß, seine Belesenheit, seine theoretische Reflexion des eigenen Standpunkts (oder nach Chladenius des „Sehe-Punktes“) noch heute vorbildgebend und Teil des universitären Ausbildungskanons des Faches sein.

Hinterließ Wehler in der Wissenschaft mit seinen Schriften, programmatischen Sammelbänden, die den Weg zu interdisziplinären Arbeit mit den benachbartern Sozialwissenschaften ebneten, und nicht zuletzt mit dem sozialgeschichtlichen Meilenstein, der fünfbändigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte, einen tiefen Fußabdruck, so war er doch gleichzeitig darüber hinaus ein Akteur in zahlreichen der gesellschaftspolitischen Debatten der neuen und alten Bundesrepublik: von Historikerstreit über EU-Beitritt der Türkei bis hin zur fortdauernden sozialen Ungleichheit, die dem eigentlich am Modernisierungsparadigma hängenden Wissenschaftler den damit verbundenen Fortschrittglauben eintrübte. Mag man auch nicht allen diesen Debatten mit Wehler einer Meinung gewesen sein, was festzuhalten bleibt, ist, dass er ein Historiker war, dessen Meinung gehört wurde, der den Raum bekam, sie kundzutun und der so die Diskurse prägte.


Und genau dies scheint mir der Punkt zu sein, der mit dem Tode Wehlers noch einmal ganz besonders deutlich wird: Es ist wohl davon auszugehen, dass Wehler der letzte unserer Zunft war, den man bei dessen Tod mit ganzseitigen Nachrufen auf der ersten Seite des Feuilletons bedenken dürfte – einzig der telegene Geschichtslehrer der Nation, Guido Knopp, dürfte bei seinem (hoffentlich noch lange nicht eintretenden Ableben) ein derartiges Medienecho bewirken. Gerade der Tod Wehlers und die mediale Reaktion wird somit nochmals zu einem letzten Symbol der vergangenen Deutungsmacht der Geschichtswissenschaft und ihrer Protagonisten. Mit Wehler dürfte diese debattenprägende Kraft der Zunft (trotz aller Kleinkriege um den Beginn des Ersten Weltkriegs) endgültig vorbei sein.

Mittwoch, 28. Mai 2014

Im Archiv

Eine der zum Klischee geronnenen Geschichten des Historikerdaseins ist die spannungsreiche Beziehung zwischen Archivar und Wissenschaftler. Zahlreiche Anekdoten ranken sich um Erlebnisse mit mürrischen Archivaren, die ihre Dokumente hüten wie ihr eigenes Kind und niemandem den Blick auf sie gestatten wollen – von Wünschen nach Reproduktionen oder anderen Ungehörigkeiten ganz zu schweigen. Und dann noch die Räuberpistolen der Kollegen, die sich auf die osteuropäische Geschichte spezialisiert haben und die davon zu berichten wissen, wie man sich langsam die Gunst des Archivars ertrank oder wie der mit Forschungsmitteln gut ausgestattete Ivy-League-Historiker einen Geldkoffer über den Tresen des Archivs schob und so Unterlagen zu sehen bekam, die zuvor noch als nicht mehr existent oder gar als nie da gewesen beschrieben wurden. (Womit sollte man da dagegenhalten? Damit, dass man sich schon mal die Finger in einem Archiv in einer niedersächsischen Provinzstadt verletzt hat? Ein glatter Schnitt mit einem Papier, der allerdings nicht genäht werden musste.)

Die tatsächlichen Erlebnisse im Archiv nehmen sich neben derart ruchlosen Räuberpistolen eher harmlos aus; sie beginnen damit, dass man eine Archivalie bestellt, deren Kurzbeschreibung und Betitelung genau das Dokument versprachen, auf das man seit Beginn der eigenen Recherchen gehofft hat. Und dann kommt der Bestellzettel mit dem Vermerk zurück, dass genau diese Mappe seit 2008 verschollen sei. Oder aber: Man bekommt das Konvolut ausgehändigt und muss feststellen, dass der Autor der Inhaltsangabe des Dokuments entweder ein gerüttelt Maß an Phantasie hat walten lassen, dass er andere Dinge hinter den von dir gesuchten Begriffen versteht oder aber dass die eigene Schlagwortsuche einfach nicht zu dem passt, was man erforschen möchte. Und da sitzt man da mit seinen wenig informativen Papieren – eine Situation, die noch durch zweierlei Beobachtungen verstärkt wird:

  1. Zum einen gibt es immer den einen älteren Herren, der ebenfalls im Archiv arbeitet, die dicksten Aktenkonvolute vor sich liegen hat, die wahnsinnig spannende Titel tragen und als wollte er sich über dich lustig machen auch in schierer Forscherleidenschaft notiert, blättert und seinem Entdeckerstolz (im Rahmen des im Archiv Schicklichen) freien Lauf lässt. Während er also voller Begeisterung die Geschichte umschreibt, sitzt du vor Zahlenkolonnen, belanglosen Briefwechseln, in denen Lieferant und Einzelhändler um die letzte Stelle hinterm Komma feilschen, und Unternehmenshagiographien, in denen man sich mutig selbst beweihräuchert.
  2. Zum anderen hat man nur diese Unterlagen für die nächsten zwei Stunden – erst dann wird wieder ausgehoben. Vielleicht hat man dann ja mehr Glück...was macht man solange? Man schreibt Blogeinträge.


Staatsarchiv Osnabrück am 27.05.2014

Montag, 19. Mai 2014

Zeitgeschichte der Gefühle. Aus geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften I.

Zu Bernhard Gottos Aufsatz, Enttäuschung als Politikressource. Zur Kohäsion der westdeutschen Friedensbewegung in den 1980er Jahren, in: VfZ 62 (2014), H.1, S. 1-33.

Auch wenn die eigenen Zeitressourcen im Grunde gänzlich durch die für die eigene Arbeit thematisch relevante Literatur in Anspruch genommen werden, nimmt man sich doch hin und wieder die Zeit, in die aktuellen geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften zu schauen. Nur so kann man sehen, was aktuell diskutiert wird, worüber das eigene Fach sich augenblicklich gerade streitet und welche methodischen Neuerungen en vogue sind. Heute nehmen wir uns Bernhard Gottos Aufsatz zur Gefühlslage der Friedensbewegung vor.

Um sich dem Gefühlshaushalt dieser Neuen Sozialen Bewegung zu nähern verwendet Gotto den Begriff der Enttäuschung. Anders jedoch als die klassische Niedergangsgeschichte der Friedensbewegung belässt es Gotto nicht bei einer reinen chronologischen Abfolge von Euphorie zu Beginn und allgemeiner Enttäuschung nach dem Stationierungsbeschluss 1983 und dem folgenden Absinken der Friedensbewegung in der Bedeutungslosigkeit. Theoretisch reflektiert und empirisch differenziert fragt er vielmehr nach unterschiedlichen Formen von Enttäuschung bei verschiedenen ProtagonistInnen und vor allem nach unterschiedlichen Gründen für eben dieses Gefühl.

Unter Verwendung der koselleckschen Begrifflichkeiten von "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" (die trotz ihres nunmehr beinahe vierzigjährigen Bestands im fachwissenschaftlichen Diskurs noch immer nichts an ihrem analytischen Potential eingebüßt haben) definiert Gotto die Enttäuschung als Inkongruenz zwischen den Erwartungen und den dann gemachten Erfahrungen. Nach Akteursgruppen unterschieden macht Gotto diese Inkongruenz nun jeweils unterschiedlich fest: Der rührige Aktivist sah sich in der geringen Aktivität der beim Ostermarsch Mitlaufenden enttäuscht; diese wiederum enttäuschten die überspannte Erwartungshaltung der OrganisatorInnen und die Autonomen vermerkten enttäuscht, dass die Proteste zu wenig radikal gewesen seien, sondern sich zu Kaffeekränzchen mit allerlei Prominenz auswuchsen.

Ist diese Feststellung noch nicht sonderlich überraschend (aber durchaus überzeugend empirisch und quellennah herausgearbeitet), so geht Gotto noch einen Schritt weiter und analysiert nun, wie in der Friedensbewegung selbst mit diesen Enttäuschungserfahrungen umgegangen wurde - und hier zeigte sich die Friedensbewegung als äußerst erfolgreich im Gefühlsmanagement. Um die Enttäuschung nicht überhand nehmen und sie vor allem nicht in Resignation (und damit Untätigkeit, den sicheren Tod einer jeden Bewegung) umschlagen zu lassen, musste entweder produktiv mit diesem Gefühl umgegangen oder aber die Enttäuschung per se negiert werden. Drei Strategien werden von Gotto genannt, um mit den Enttäuschungen umzugehen; unter dem Stichwort "Autoimmunisierung" beschreibt Gotto Maßnahmen der (nachträglichen) Neudefinition der eigentlichen Ziele, die nun unter den eigentlich angesetzten lagen. Aus der Verhinderung von Stationierungen wurde so der "erste Schritt zur Entmilitarisierung der Gesellschaft", der durch die Proteste gegangen worden sei. Statt der "Dringlichkeit", die die Rhetorik der Friedensbewegung in ihrem Beginn bestimmte, wurde der "lange Atem", der noch benötigt werde, um den Frieden zu erreichen. Aus dem Ziel der Veränderung der Gesellschaft wurde das Ziel der Veränderung des eigenen Selbst durch die Erfahrungen des gemeinsamen Protests.

Gottos Analyse der Enttäuschung in der Friedensbewegung ist in seiner analytischen Klarheit und der gewählten theoretischen Zugangsweise mehr als überzeugend und im besten Sinne thought provoking. Insbesondere der Hinweis darauf, dass man für die 1980er nicht nur von einem "Wandel des Politischen" sprechen sollte, sondern gleichzeitig auch fragen sollte, wie sich die Akteure selbst veränderten, sollte Eingang finden in die Zeitgeschichtsschreibung dieses Jahrzehnts, das augenblicklich noch historiographisch vermessen wird. Gottos Zugang über eine Zeitgeschichte der Gefühle setzt dazu einen diskussionswürdigen Startpunkt.

Montag, 12. Mai 2014

Der Krieg in der Region: Mobilisierung, Sinnstiftung und Trauer in der niedersächsischen Provinz und darüber hinaus. Tagungsbericht zu: „Kriegsbeginn im Norddeutschland. Zur Herausbildung einer 'Kriegskultur' 1914/15 in transnationaler Perspektive. Tagung in Wilhelmshaven vom 8. bis 10. Mai 2014“

Was hat der Nordwesten Deutschlands mit dem Ersten Weltkrieg zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel, fanden doch die berühmten und allein schon durch ihre schieren Opferzahlen geschichtsträchtigen Schlachten anderswo statt. Dass aber auch das Gebiet des heutigen Niedersachsens und Bremens vom Krieg beeinflusst wurde, ja dass auch hier das festzustellen ist, was die französische Historiographie „Kriegskultur“ zu nennen beginnt, war Thema der diesjährigen Tagung des Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. Dankenswerterweise beließen es die OrganisatorInnen (Prof. Dr. Cornelia Rauh, Prof. Dr. Dirk Schumann und Prof. Dr. Arnd Reitemeier) nicht bei der norddeutschen Nabelschau, sondern versuchten auch darüber hinausgehende Perspektiven in die Diskussion mit einzubeziehen. Dass das zuweilen trostlos wirkende Wilhelmshaven – insbesondere bei andauerndem Regenwetter – gar nicht so zufällig als Tagungsort gewählt wurde, wie es zunächst in den Anschein hatte, wurde deutlich, sobald man nähere Informationen zur überaus kriegerischen Geschichte der Stadt erhalten hatte.

Schon in der Einführung durch DIRK SCHUMANN und ARND REITEMEIER wurde deutlich, worum es der Tagung ging. Man wolle dem Vorwurf entgegenwirken, der der Landesgeschichte häufig gemacht werde: Nicht die selbstgenügsame Betrachtung des eigenen Umfelds, sondern die Einbettung der hiesigen Entwicklungen ins große Ganze, so das überaus überzeugend vorgebrachte Anliegen! Auch wenn das lange Zeit dominierende Bild der Kriegseuphorie im August 1914 durch zahlreiche Forschungen relativiert worden sei, so muss doch gefragt werden, wie sich in den ersten Monaten des Kriegs das ausprägen konnte, was den Krieg ermöglichte und das Durchhalten trotz hoher Verluste, Nahrungsmittelengpässen und sinkendem Lebensstandard gewährleistete. Wie entstand und was zeichnete die sogenannte „Kriegskultur“ im nordwestdeutschen Raum aus und wie lassen sich diese Befunde mit anderen Regionen vergleichen? Fünf Schneisen sollten den Weg zur Beantwortung dieser Fragen ebnen: Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft, Stadt, Medizin und Geschlecht, Trauer und Deutungen.

ANTJE STRAHL eröffnete die Sektion zur ländlichen Gesellschaft mit einem Vortrag über die Situation der mecklenburgischen Landwirtschaft in den ersten Kriegsjahren. Die dortige Situation kennzeichneten dabei vor allem zwei Problemlagen: Das Fehlen von arbeitsfähigen Männern und zweitens der Mangel an Arbeitspferden. Konnte das erste Problem noch durch den Einsatz von Kriegsgefangenen teilweise gelöst werden, gab es keinen Ersatz für die tierischen Helfer in der Landwirtschaft, die vom Militär benötigt wurden.

Weiter nach Osten führte der Vortrag von STEPHAN LEHNSTAEDT. Der ausgewiesene Kenner der polnischen Geschichte fragte nach der Situation im besetzten Polen und den Hoffnungen, die sich die deutsche Verwaltung mit der Eroberung dieser „Kornkammer“ machten. Dass sich diese Hoffnungen trotz brutalster Maßnahmen, die zu Hunger in der polnischen Bevölkerung führte, nie erfüllten, konnte Lehnstaedt äußerst überzeugend darstellen.

So interessant beide Vorträge für sich genommen auch waren, muss dennoch gefragt werden, inwieweit sie dazu taugen, neue Einsichten in die „Kriegskultur“ im ländlichen Raum zu werfen. Es bleibt letztlich unklar, warum die Not in Mecklenburg zwar allgemein spürbar war, der Krieg aber offenbar nicht infrage gestellt wurde. Für das polnische Beispiel könnte vielleicht argumentiert werden, dass erst die "Kriegskultur" erlaubte, auch auf Kosten einer Notlage der einheimischen Bevölkerung weiter an den Export der dort produzierten Nahrungsmittel zu denken.

Vom Land ging es direkt in die Stadt, genauer zunächst nach Münster. In seinem theoretisch dichten und thesenstarken Vortrag analysierte CHRISTOPH NÜBEL die Situation in dieser westfälischen Stadt in den Jahren 1914 und 1915. Schon in der gewählten Fragestellung machte Nübel deutlich, dass er die Vorgaben der TagungsorganisatorInnen auf sein konkretes Beispiel anzuwenden wusste: Den Begriff der Mobilisierung verwendend gelang es ihm, aufzuzeigen, wie sich die Stadtgesellschaft innerhalb kürzester Zeit auf die Kriegssituation einstellte. Gleichzeitig stellte Nübel die Zentralität des Opferbegriffs heraus und verknüpfte diesen gekonnt mit den drei von ihm gewählten Analysekategorien Sicherheit, Ausnahmezustand und Burgfrieden. Insgesamt machte er deutlich, welche Potentiale sich ergeben, lässt man sich auf die Tagungsgrundlagen ein, kann diese durch eigene theoretische Zugänge erweitern und verfügt schließlich noch über ausreichend Quellen, um die Befunde empirisch zu untermauern.

DIANA SCHWEITZER wählte für das Beispiel Lübeck einen anderen Zugang. Ausgehend von dem Befund, dass es in dieser Stadt 1918 keine Revolution gegeben habe, fragte sie, ob schon zu Beginn des Krieges Unterschiede zu anderen vergleichbaren Städte gebe, die deren Fehlen erklären könne. Leider waren Schweitzers Forschungen noch nicht so weit fortgeschritten, als dass sich Antworten auf diese durchaus interessante Frage finden ließen – die gleichzeitig wohl immer mit den Problemen konfrontiert sein wird, die kontrafaktische Geschichtsbetrachtungen nun einmal nach sich ziehen. Zu belegen, warum etwas nicht eintrat, wird immer schwieriger und vor allem spekulativer sein, als nachzuvollziehen, wie es denn eigentlich gewesen.

Den ersten Tagungsort krönte ROGER CHICKERING mit einem fulminanten Abendvortrag, der erneut bewies, warum der amerikanische Historiker zu einem der besten Kennern der deutschen Geschichte gehört. In seinem kurzweiligen Vortrag ging er der Frage nach, ab wann der Erste Weltkrieg als „totaler Krieg“ zu bezeichnen sei – wenn er es überhaupt war! Wie es sich für einen differenzierten Vortrag gehört, bot Chickering für diese Frage verschiedene Antworten an: Mit der Remobilisierung in den letzten Kriegsjahren, mit dem Begehen der Kriegsgreuel (von den Deutschen in Belgien und den Russen in Ostpreußen) oder – und damit ganz im Sinne der Tagung – schon in den ersten Monaten des Krieges, im „langen Jahr 1915“. Schon hier sei eine Radikalisierung und Intensivierung der Kriegsführung festzustellen, deren sichtbarer Ausdruck die Einführung des Stahlhelms wurde. Schon derart früh ließ sich der Einsatz militärischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung feststellen. Schon von da an wurde auch die Heimat in den Dienst des Krieges gestellt. Eher ernüchtert konnte Chickering in Anbetracht all dessen jedoch feststellen, dass dies allesamt keine neuen Elemente des industrialisierten Krieges des 20. Jahrhundert waren, sondern schon vorher feststellbar waren. Darüber hinaus gab er durchaus zu, dass die Frage an sich schon müßig ist – sofern sie auf Totalität des Krieges als Zustand abzielt. Was Chickering stattdessen vorschlug, war die Betrachtung vom „totalen Krieg“ als Prozess, es ging ihm also mehr um Totalisierung des Krieges.

Das erste Panel des zweiten Tagungstages war weiterhin dem Kriegsausbruch und den Reaktionen in den Städten gewidmet. Diesmal wurde allerdings ein ganz spezielles Milieu in den Blick genommen: Die Universität. HARALD LÖNNECKER präsentierte einen umfangreichen Quellenkorpus mit Feldpostbriefen korporierter Studenten, die an ein studentisches Kriegsarchiv gesendet worden waren. Insbesondere der Befund, dass diese Studierenden gewohnte Begrifflichkeiten und Sinndeutungen verwendeten, um die unermesslichen Schrecken des Krieges zu erklären, konnte überzeugen. Aus dem Krieg wurde so letztlich eine Mensur anderer Art!

TRUDE MAURER wählte für ihren Vortrag, der sich ebenfalls mit dem akademischen Milieu auseinandersetzte, einen komparativen Ansatz. Während sich deutsche Universitätslehrer als Teil der kämpfenden Nation darzustellen bemühten und ihren Teil für den Kriegsdienst zu leisten, war das Bild in Russland ein anderes. Hier war die Trennung zwischen Volk und Intelligenzja größer. Zwar sah man sich in den Zielen gleich, doch wollte man die Trennung zwischen Volk und Akademikern aufrecht erhalten.

Der dritte Vortrag dieses Panels verließ die Universität und wandte sich der Sommerfrische zu. Während des Ausbruchs des Krieges wurden die zuvor in ganz Europa – und auch darüber hinaus – Geschäftskontakte unterhaltende Familie Kahan-Rosenberg im Deutschen Reich als Angehörige einer feindlichen Nation angesehen und deshalb mit Einschränkungen versehen, so VERENA DOHRN in ihrem Beitrag. Die gebildete und vermögende weitverzweigte jüdische Industriellenfamilie ließ sich davon aber nicht in ihren sommerlichen Urlaubsplänen beeinflussen – und damit war sie nicht alleine. Die Vorstellung, dass mitten im von Chickering so differenziert analysierten „totalen Krieg“ derartige Momente von „Normalität“ möglich waren, wäre sicher der weiteren Diskussion wert. Sowohl um den Alltag in der Heimat besser zu verstehen, als auch um die Definition des Konzepts vom „totalen Krieg“ zu schärfen.

Direkt von der Sommerfrische ging es nun ins Krankenhaus beziehungsweise ins Lazarett. In einem beispielhaften (von MARIA HERMES zur Psychiatrie in Bremen) und einem diskursgeschichtlichen Vortrag (von SUSANNE MICHL) wurde den Deutungen von Ärzten nachgegangen, die mit kriegsbedingten Störungen zu tun bekamen. Hermes machte deutlich, wie in den Krankenakten zu erkennen ist, dass sich die behandelnden Ärzte vor allem „sozialdarwinistischer Erklärungsmuster“ zu Beschreibung der psychischen Krankheiten befleißigten, wohingegen dem Krieg nur eine kleine Rolle bei deren Ausbruch zugeschrieben wurde. Michl machte am Beispiel von Geschlechtskrankheiten und Kriegspsychosen Unterschiede in der Bewertung deutscher und französischer Ärzte aus.

Im Panel zum Thema Trauer hielt CHRISTOPH RASS den am heftigsten diskutierten Vortrag. Die Kontroversen ergaben sich weniger aus den Befunden zum „Sterbegeschehen“ in Osnabrück während des Krieges, die – sehr zum Erstaunen des Referenten im Plenum und auch vom Kommentator – als erwartbar, ja im Grunde bekannt angesehen wurden, sondern wegen der verwendeten Methodik. Rass stützte sich auf Verzeichnisse von Toten aus dem Krieg, wertete diese Totenmeldungen statistisch aus und so gelang es ihm, für Osnabrück genau nachzuzeichnen, wann viele Soldaten aus welchen Stadtbezirken starben und welcher Klasse diese angehörten. Diese sozialstatistische Auswertung des „Sterbegeschehens“ soll in einem weiteren Schritt auch kulturgeschichtlich ausgewertet werden – dies unterblieb allerdings im Tagungsvortrag, sodass sich bei vielen Anwesenden der Eindruck einstellte, dass hier zu viele Ressourcen für einen zu geringen empirischen Ertrag eingesetzt wurden.

DOROTHEE WIERLING wiederum benutzte genau die bei Rass vermisste kulturgeschichtliche Methodik, um ein umfangreiches Briefkonvolut um die bekannte Publizistin Lilly Braun auszuwerten. Besonders interessant ist dabei, wie die Personen aus dem bildungsbürgerlichen Milieu versuchten, den Tod im Feld mit Sinn zu versehen. Diesen entdeckten sie in den meisten Fällen im heldenhaften Tod, ja als quasi antike Opferung.

Der zweite Abendvortrag nahm sich der Geschichte des Tagungsortes an. Mit viel Liebe zum Detail erzählte GERD STEINWASCHER den leicht ermüdeten Zuhörern die Geschichte der Stadt Wilhelmshaven von der Gründung im 19. Jahrhundert, zum bedeutenden Marinestützpunkt und letztlich zum gegenwärtigen Zustand und den Problemen, die sich aus dem Abzug der Marine ergaben.

Am letzten Tag wurden die Deutungen des Krieges zum Thema gemacht. In den ersten beiden Vorträgen standen die beiden einflussreichen Deutungsagenturen, die beiden christlichen Kirchen, im Vordergrund. Während JULIA CAROLINE BOES sich dem Bistum Hildesheim annahm und nach den Konsequenzen des Krieges für die verschiedenen Diasporagemeinden im mehrheitlich protestantischen Gebiet fragte, fragte DIETRICH KÜSSNER nach dem Niederschlag des Krieges in kirchlichen Quellen in verschiedenen protestantischen Gemeinden Braunschweigs. Boes legte dabei vor allem eine Institutionengeschichte in schwerer werdender Zeit vor (sodass die Frage nach den Deutungen etwas in den Hintergrund rückte). Küssner hingegen nutzte seinen Vortrag vor allem dafür, die aktuelle Geschichtskultur zu kritisieren und darauf hinzuweisen, dass in den Gemeinden schon während des Krieges auch die unermessliche Gewalt, ja gar die Kriegsgreuel zum Thema gemacht wurden, die immer noch nicht Eingang in die Schulbücher gefunden hätten.

DAVID CIARLO schloss die Tagung mit dem letzten Vortrag. Er stellte seine Lesweise von Werbeanzeigen vor und während des Krieges vor, anhand derer er nachzuweisen suchte, dass zwar nicht jeder ein Augusterlebnis erlebt habe, dass dieses aber gerade auch durch die kommerzielle Werbung, in der der Kaiser, Soldaten und bald auch schon (phallisch präsentierte) Waffen überproportional häufig vertreten waren, visuell ubiquitär verbreitet wurde – und damit zur kulturellen Vorbereitung des Kriegs beitrug. Unterhaltsam und analytisch dicht gelang es Ciarlo diese „Hegemonie der Vision kriegerischer und kriegstechnischer Motive“ als integralen Bestandteil der die Tagung bestimmenden Leitfigur der „Kriegskultur“ zu kennzeichnen.


In der von CORNELIA RAUH geleiteten Schlussdebatte wurde vor allem auf Desiderata dieser ohnehin schon umfangreichen Tagung hingewiesen. Bei der Konzentration auf die „Kriegskultur“ fielen all jene, die sich dieser verweigerten, aus dem Raster, so eine Stimme aus dem Plenum. Darüber hinaus wurde ein Einbezug der Literatur in die Betrachtung von „Kriegskultur“ gefordert. Außerdem wurde nochmals das Plädoyer nach flüssigeren Zäsuren geäußert, die auch schon Ciarlo in seinem Beitrag wählte: Was seit Sommer 1914 zu beobachten war, war keinesfalls in allen seinen Bestandteilen neu – und endete dann auch nicht 1918!

Tagungsablauf:
Arnd Reitemeier u. Dirk Schumann, Einführung

Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft
Antje Strahl, Stabilisierung statt Wachstum. Zum Perspektivwechsel in der mecklenburgischen Landwirtschaft 1914/15
Stephan Lehnstaedt, Kriegsverwüstungen und die Notwendigkeit der "Nutzbarmachung" im besetzten Polen 1914/15

Stadt und städtische Gesellschaft 1
Christoph Nübel, Kriegsbereit - Mobilmachung und Selbstmobilisierung in Münster, 1914/15
Diana Schweitzer, "Vom Hafen an die Front, vom Herd in die Fabrik, von der Schule auf das Feld..." Kriegsbedingte Wandlungen innerhalb der Lübecker Arbeiterschaft 1914/15?

Abendvortrag
Roger Chickering, Wann wird der Krieg total?

Stadt und städtische Gesellschaft 2
Harald Lönnecker, "Auf in den Krieg, voran zum deutschen Sieg!" Vom akademischen Normal- zum Ausnahmezustand in den Hochschulstädten Göttingen, Braunschweig und Hannover 1914/15
Trude Maurer, Integration in die Volksgemeinschaft oder Exklusivität. Die Angehörigen deutscher und russischer Universitäten in der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs
Verena Dohrn, "Der Aufstieg war sehr schön, nur ist es hier neblig." Osteuropäisch-jüdische Migranten in Deutschland zu Beginn des Ersten Weltkriegs

Gesundheit und Geschlecht
Maria Hermes, Zwischen Mobilmachungsneurose und Hysterie. Psychiatrie in Bremen zu Beginn des Ersten Weltkriegs
Susanne Michl, 1914: Etablierung einer neuen Geschlechterordnung? Die Debatten deutscher und französischer Ärzte im Vergleich

Trauer
Christoph Rass, Die Stadt als Erfahrungsraum des Todes auf dem "Schlachtfeld" in der Anfangsphase des Ersten Weltkrieges
Dorothee Wierling, Kriegsgewalt in der Familienkommunikation 1914/15 - das Beispiel der Familie Braun 

Abendvortrag
Gerd Steinwascher, Wilhelmshaven-Rüstringen. Glanz und Elend einer preußisch-oldenburgischen Doppelstadt im Ersten Weltkrieg

Deutungen
Julia Caroline Boes, Die Anfangsphase des Ersten Weltkriegs im Bistum Hildesheim
Dietrich Küssner, Die Anfangsphase des Ersten Weltkriegs im Spiegel von Kirchenchroniken, Gemeindebriefen und Amtskonferenzen in der Braunschweigischen Landeskirche
David Ciarlo, Marketing War. German Visual Advertising 1910-1916

Schlussdiskussion (moderiert durch Cornelia Rauh)

Dienstag, 29. April 2014

Auf Stimmungenfang. Ulrike Edschmids Roman "Das Verschwinden des Philip S." (Aktion: Blogger schenken Lesefreude)

Während die akademische Geschichtsschreibung sich schwer damit tut, Stimmungen einzufangen – der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat erst in seiner aktuellen Arbeit zur Latenz einen theoretisch begründeten Anfang zu ihrer möglichen wissenschaftlichen Analyse gemacht –, so hat die in aus der Zeitgeschichte ihre Themen beziehende Literatur hier einen klaren Vorteil. Sie muss sich weniger um Quellen und die Frage der empirischen Überprüfbarkeit stellen, ihre Plausibilität ergibt sich aus der erzählten Fabel und der dazu verwendeten erzählerischen Mittel.

Autobiographisch fundierte Literatur nimmt dazu noch die Autorität des Zeitzeugen für sich in Anspruch. Wenigen Romanen gelingt es wohl derart überzeugend eben die Stimmungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre so überzeugend einzufangen – und darzustellen – wie Ulrike Edschmid in ihrem Buch „Das Verschwinden des Philip S.“ Einzig Uwe Timms „Heißer Sommer“ ist darin eventuell noch vergleichbar, im Gegensatz zu Timms Erzählhaltung, der sich mit gekonnter Ironie im Erzähmodus der Komödie bewegt, ist bei Edschmid wenig Komisches oder Ironie zu finden.

Edschmid lässt den Leser eine Tragödie nachvollziehen. Den Weg des Filmstudenten Philip S. Von formalen Experimenten auf der Leinwand und privaten Aufbrüchen mit dem Ziel einer Neugestaltung von Familienleben und Kindererziehung hin zum Terrorismus der 1970er Jahre. Äußerst überzeugend gestaltet Edschmid dabei die Position der (wiederum autobiographisch) gefärbten Ich-Erzählerin, die diesen Weg zunächst mitgeht, irgendwann jedoch – vor allem in Sorge um das eigene Kind – aus der Gewaltspirale ausbricht und nur noch beobachten kann, wie Philip S. den Gang in die Illgelität antritt und letztlich in einer Schießerei mit Polizisten stirbt.

Mit Nostalgie für die Aufbruchjahre der 1960er und mit zunehmendem Unverständnis darüber, was daraus folgte, beschreibt Edschmid den Abschied ihres Lebensgefährten aus dem vermeintlich richtigen Leben im so empfundenen falschen um sie herum. Die entsprechenden zeitgeschichtlichen Ereignisse, die die Radikalisierung der späten 1960er Jahre bedingten, werden benannt (die Erschießung Ohnesorgs, die Schlacht am Tegeler Weg etc.), die entsprechenden zeithistorischen Personen treten auf (wobei auffällt, dass z.B. Rudi Dutschke nie beim Namen genannt, sondern nur als „Studentenführer“ deklariert wird, eine Zuschreibung, die er selbst – auch wortwörtlich – immer wieder für sich abgelehnt hat) und die Stimmung dieser Zeit wird, jedenfalls für jemanden, der sie nicht miterlebt, sondern nur aus der Forschung und aus zeitgenössischen Berichten kennt, sowohl faktisch überzeugend als auch stilistisch gekonnt dargestellt. Dabei fällt vor allem Edschmids gelungene Beschreibung der Verflechtungsgeschichte der Studentenbewegungen der Bundesrepublik und Italiens auf, die erst seit kurzer Zeit auch Teil einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser Zeit ist (Vgl. die Habilitation von Petra Terhoeven).

Edschmids Roman ist ein Buch, das für jeden zu empfehlen ist, der sich mit der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte beschäftigt und der nach den Gründen für den Terrorismus der 1960er Jahre fragt. Dass Edschmid – die nicht nur als Chronistin, sondern auch als Beteiligte – die Ursache vor allem bei einer Überreaktion der staatlichen Stellen zu Beginn des kulturellen Aufbruchs sieht, der Terrorismus von RAF und den vergleichbaren Gruppen so nur eine ebenfalls gewaltsame Reaktion auf Hausdurchsuchungen, Überwachungen, Beschlagnahmungen und Festnahmen erscheint, macht ihr Buch auch zu einem Thesenroman, über dessen Grundannahmen diskutiert werden kann und muss. Sollten weitere Diskussionsbeiträge ebenso gekonnt und lesenswert ausfallen, kann darin nur eine begrüßenswerte Entwicklung gesehen werden.

Rezension zu:
Ulrike Edschmid, Das Verschwinden des Philip S., Berlin 2013. Seit des Verlags

Erwähnte weitere Werke:
Uwe Timm, Heißer Sommer, München 1998. (Zuerst 1974; das frühe Erscheinungsdatum legt wohl auch noch eher die Erzählform der Komödie nahe – der „Deutsche Herbst“ war so noch nicht Teil der Erfahrungswelt des Autors) Seite des Verlags
Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012. Seite des Verlags
Petra Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen, München 2014. Besprechung bei HSozKult


Die Besprechung dieses Buchs erfolgt im Rahmen der Aktion „Blogger schenken Lesefreude.“ Das Buch wird nach der Besprechung einem interessierten Leser zur Verfügung gestellt. Die 1960er Jahre waren eine Zeit, in der es auch – siehe die auch im Roman vorkommenden Raubdrucke – um eine Demokratisierung des Wissens ging. Teil dieser Demokratisierung von Wissen und Bildung der Gegenwart sind die in zahlreichen Städten aufgestellten Bücherboxen. In diesen können nicht mehr benötigte Bücher weiteren Lesern zur Verfügung gestellt werden, um sie vor dem Altpapiercontainer zu bewahren. Dieses Exemplar von Edschmids Roman wurde in der Bücherbox am Engelborsteler Damm in Hannover deponiert und findet so hoffentlich weitere interessierte Leser.


Zu den öffentlichen Bücherboxen/Bücherschränken siehe auch den entsprechenden Eintrag bei  Wikipedia

Dienstag, 22. April 2014

Tante Emma hat ausgedient - König Kunde bedient sich selbst!

Vor den Osterfeiertagen konnte man sie wieder einmal beobachten: Lange Schlangen an den Supermarktkassen. Kleine Kinder, die mit schon rot verweintem Gesicht nach den verkaufspsychologisch durchdacht platzierten Süßwaren quengeln, den schimpfenden Herren, der sich über die langsame Abfertigung mokiert, und die ältere Dame, die sich die Münzen von der Kassiererin aus ihrem Portemonnaie suchen lässt und dabei von früher erzählt. Und während man darauf wartet, den eigenen bescheidenen Einkau bezahlen zu dürfen, fragt man sich, welcher Innovationen und Lernprozesse es bedurfte, damit es gegenwärtig derart diszipliniert und routiniert abläuft im Flaggschiff des Lebensmitteleinzelhandels.

Mit ihrer nun veröffentlichten Dissertation „Revolution im Einzelhandel. Die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland“ lässt Lydia Langer uns mit derartigen Gedanken nicht allein, sondern bereitet sie quellengesättigt und theoriestark auf - und leistet so einen fundamentalen Beitrag sowohl zur westdeutschen Konsum- als auch zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des bundesrepublikanischen Einzelhandels. Am Beginn der Arbeit steht dabei die Verwunderung darüber, dass ein derart umfassender, ja „revolutionärer“ Prozess, wie die Einführung der Selbstbedienung, die nicht nur von Ladendesignern und Einzelhändlern, sondern auch von Personal und Kunden, ein völlig neues Verständnis des Einkaufs erforderte, vergleichsweise konfliktfrei hat verlaufen können. Zwar gab es auf allen Ebenen immer wieder Widerstände gegen die Selbstbedienung, letztlich verhindert werden konnte sie nicht, und sobald sie akzeptiert wurde, folgten ihre weitreichenden Strukturveränderungen im Einzelhandel auf dem Fuße: Vom kleinformatigen Lebensmittelladen, über den Supermarkt hin bis zum überdimensionierten Verbrauchermarkt auf der grünen Wiese innerhalb von zwanzig Jahren!

Langer gelingt es ihr umfangreiches Material geschickt aufzubereiten; ihre grundlegende Frage ist, welches Wissen von den verschiedenen Akteuren benötigt wird, um kompetent mit der Selbstbedienung umgehen zu können, auf welchen Wegen dieses Wissen erworben wurde und wer die Übertragungsinstanzen für dieses Wissen waren. Daraus entwickelt sie die These, dass man keinesfalls von einer reinen Übernahme US-amerikanischer Muster sprechen könne, sondern dass sich eine spezifisch (west-)deutsche Form des Selbstbedienungseinzelhandels entwickelt habe. Diese These ist sicher ebenso richtig, wie sie allgemein auch schon vor Langers quellenreicher Arbeit (z.B. von Schröter) formuliert wurde. 

Was mir fehlt, ist jedoch die genaue Darstellung dessen, welche nun die spezifisch deutschen Elemente dessen sind, was wir heute im Supermarkt beobachten können. Auch erscheint mir die Zäsur 1973 als Endpunkt der Studie nicht hinreichend begründet: War dieses Jahr, das augenblicklich gerne zur generellen Zäsur innerhalb der Zeitgeschichte stilisiert wird, auch für den Einzelhandel derart bedeutsam, dass davon ausgegangen werden kann, dass damit die „Revolution“ (die immerhin ohne Fragezeichen im Titel steht) als abgeschlossen gelten kann? Genügt der quantitative Befund, dass von da an ein Großteil der westdeutschen Einkäufe in Selbstbedienung getätigt wurden?

Rezension zu: Lydia Langer, Revolution im Einzelhandel. Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949-1973), Köln 2013 (= Kölner Historische Abhandlungen 51).

Dienstag, 4. März 2014

Kunsthandwerk und Kriegshandwerk: 100 Jahre Erster Weltkrieg. Fundstücke zu Geschichte und Rezeption 2

Liest man autobiographische Zeugnisse und die aus ihnen hervorgegangenen immer noch lebensgeschichtlich gefärbten literarischen Verdichtungen zum Kriegs- und insbesondere Frontalltag des Ersten Weltkriegs, so sind Gewalt, Tod und das Töten des Gegenübers nicht das Einzige, immer wiederkehrende bedrückende Element. Hinzu kommt die Langeweile, das Warten darauf, dass etwas passieren möge und sei es auch noch so schrecklich.
Es liegt nahe, diese Zeit der Langeweile füllen zu wollen und eine Art, wie das geschah, war die sogenannte Schützengrabenkunst. Jedes noch so unzureichend bestückte Museum zur Geschichte des Ersten Weltkriegs watet mit kunsthandwerklichen Stücken aus Soldatenhand auf: Federhalter aus Patronen, Gefäße aus Granaten und dergleichen, anrührend-kitschigem Tand mehr. Doch wurde auch mit mehr oder weniger selbstbewussten Zugriff gezeichnet und gemalt. Die wahrlich ungeheuren Potentiale, die der Erste Weltkrieg bei prominenten Künstlern hervorgerufen hat, sind vielfach beschrieben worden. Doch nicht nur die Prominenz der Kunstgeschichte, versuchte, bildend dem Krieg Herr zu werden. 
Die hier vorliegende Quelle ist der Versuch eines Landsers, sich mit eher bescheidenen materiellen und sicher auch eben solchen artistischen Mitteln der Kriegslandschaft anzunehmen.  "Schützengraben-Drahtverhau in Wolhynien, 1917". Gezeichnet wurde es von einem C. Fischer aus Kiel (über Informationen zum Urheber wäre ich durchaus dankbar).  
Schaut man sich die Komposition des Bildes an, so wird deutlich, dass das Ganze - auf laienhaftem Niveau - vergleichsweise souverän konstruiert ist: Im Hintergrund, verwaschen, eine Baumgruppe ohne sichtbare Einwirkungen des Krieges. Im Vordergrund der titelgebende Stacheldraht, detailreicher gezeichnet als Einbruch des modernen Krieges in eine Landschaft der dunklen Romantik.

Freitag, 3. Januar 2014

100 Jahre Erster Weltkrieg – Fundstücke zur Geschichte und Rezeption 1: Der Krieg in Latenz. Hans Willi Linkers „Spiel in Flandern“

Vorrede: In loser Folge sollen zum Jubiläumsjahr verschiedene Quellen vorgestellt werden, die in Bezug zum Ersten Weltkrieg stehen: Romane, Erzählungen, Berichte, Bilder und so weiter. Dabei geht es mir vor allem darum, Material vorzustellen, das noch nicht so bekannt ist. Ob sich so ein neuer Blick auf den Ersten Weltkrieg und seine Rezeptionsgeschichte werfen lässt? Wir werden es sehen.


Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein junger deutscher Soldat wird mit seinem – natürlich – burschikosen Adjutanten bei einer flandrischen Familie einquartiert, verliebt sich prompt in die junge Blondine des Hauses, was selbstredend besonders einfach ist, da man ja zuvor feststellen konnte, dass man „eines Stammes“ (S. 19) ist, es kommt zum Kuss und dann zur rührenden Abschiedszene, weil Robert Schmidt, genannt Bob, an die Front zurückmuss.

So weit, so gut, und nicht weiter besonders. Wahrscheinlich auch nicht sonderlich herausragend für die Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg zur Zeit des Erscheinens (Erstauflage von 1936; meine Auflage – es ist die 9. - von 1943) dieses kaum fünfzigseitigen Bändchens. Ebenso betulich-biedermeierlich wie die Geschichte sind auch die beigegebenen Holzschnitte.

Was auffällt, ist zunächst der Untertitel: „Eine Novelle aus dem grossen Krieg“. Kann man die Gattungsbezeichnung „Novelle“ vielleicht noch nachvollziehen, will der Autor uns doch die Liebe in Zeiten des Krieges als jene unerhörte Begebenheit verkaufen, derer es dafür bedürfe, so wird man doch beim zweiten Teil der Beschreibung stutzig. Nicht nur, dass der Krieg im Grunde eine geringere Rolle spielt, als nahegelegt wird, bildet er doch nur das Hintergrundrauschen, von dessen Leiden der Autor bewusst nicht sprechen will („[...] ich will es schlummern lassen unter der warmen Decke des Heute.“, S. 6), sondern die Benennung als „großer Krieg“ verwundert denjenigen, der sich mit der Erinnerungsgeschichte an den Ersten Weltkrieg auskennt: Grande Guerre und Great War sind Begriffe für den Ersten Weltkrieg aus dem französischen oder anglophonen Sprachraum; in Deutschland selbst wird er eher nicht als der Große Krieg erinnert. Dass dies wohl vor allem an den Schrecken des Zweiten Weltkriegs liegt – eine nicht allzu gewagte These – verdeutlicht dieses eher unscheinbare Büchlein, dass, vor 1939 erschienen, mit der Bezeichnung „großer Krieg“ noch wie selbstverständlich auf die Zeit zwischen 1914 und 1918 rekurrierte.

Was findet sich sonst noch an interessantem in der Novelle, wo doch die Fabel eher mager ist. Der mehrfach verbalisierte Wunsch des Vergessens der Kriegsleiden zugunsten der auch während des Krieges möglichen schönen Stunden wäre ein interessantes Element. Anders als die pazifistische Literatur von Remarque, Barbusse etc., die gerade aus der Schilderung des Leids die moralische Verpflichtung des „Nie wieder!“ ableitete, geht Linker genau den entgegengesetzten Weg: Der Krieg wird als unausweichliche Katastrophe potraitiert, der Leser erfährt nicht, dass ausgerechnet Belgien, das Land, in dem sich der Protagonist so wohl fühlt, wo er – natürlich, dem biedermeierlichen Anstrich des gesamten Büchleins entsprechend – Claudius' Mondgedicht zu Gehör bringt und damit seine „Gastgeber“ zu Tränen rührt, im Zuge des Schlieffenplans vom Deutschen Reich ohne Kriegserklärung angegriffen wurde. Statt dessen erfährt er, dass auch in einer Welt des Krieges, der nur latent im Hintergrund bleibt, glückliche Stunden möglich sind und genossen werden können. Und macht nicht erst diese vorgebliche Möglichkeit zum persönlichen Glück im großen Krieg den nächsten Krieg überhaupt erst möglich? Sicher lassen sich so auch die hohen Verkaufsziffern für die Novelle und die vielen Wiederauflagen – insbesondere nach 1939 – erklären.


Besprechung zu:
Hans Willi Linker, Spiel in Flandern.Eine Novelle aus dem grossen Kriege, Gütersloh 91943.

„Alles besagt etwas“. Zu Karl Schlögels neuem Essayband "Grenzland Europa"

„Alles besagt etwas“ - was in einem der hier versammelten Essays eher nebenher gesprochen daherkommt, und trotz dieser scheinbaren Nebensächlichkeit nichts von seiner apodiktischen Schärfe einbüßt, kann gleichsam auch als Schlögels Forschungsprogramm gelten. Dieses „Alles“ findet sich eben nicht nur dort, wo man es vermutet, wo man für gewöhnlich nach nach dem Geschichtsträchtigem sucht, sondern überall; es verwundert deshalb auch nicht, wenn Schlögel insbesondere mit den Transformationsstudien hart ins Gericht geht, die ihrerseits kopflastig nach Veränderungen im System suchten, die kleinen, alltäglichen Wandlungen darüber aber nicht zu sehen vermochten und so nur zu wenig validen und vor allem substanzlosen Beiträgen gelangten.

Schlögel hingegen, der unermüdliche Flaneur durch Zeiten und Räume (insbesondere Osteuropas), geht genau dorthin, wo sich diese Wandlungen zuerst bemerkbar machten; und mit der ihm eigenen Sprachmagie gesegnet gelingt es ihm beinahe spielerisch den Leser auf diese Zeit-Reisen mitzunehmen. Man folgt ihm gerne, betrachtet staunenden Blicks die Polenmärkte Ende der 1980er Jahre in Berlin und anderswo in Osteuropa, wundert sich mit ihm über die Warenströme von Bernstein aus dem Baltikum bis Plastikwaren aus China, begibt sich in die Abflughallen osteuropäischer Flughäfen, in denen Destinationen angeschlagen stehen, die selbst dem Kenner – und als solchen gibt sich Schlögel nicht immer uneitel zu verstehen – unbekannt sind, und lernt so vieles über eine Europäisierung von unten jenseits des virulenten Krisendiskurses.

Genau diese Verwunderung vermag Schlögel produktiv zu wenden, aus seiner Irritation gewinnt er den Willen zum Verständnis dessen, was geschah. Man kann sich nur vorstellen, wie Schlögel Seite um Seite in seinem Notizbuch füllend durch Städte reist, am heimischen Schreibtisch die Aufzeichnungen mit zuvor gemachten Beobachtungen vergleicht und aus den so diagnostizierten Unterschieden Narrative bildet. Den dezent nostalgischen Blick auf das grenzenlose Europa vor der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs kontrastiert Schlögel gekonnt mit den gegenwärtigen Entwicklungen Europas; für bahnbrechende Errungenschaften des Europäisierungsprozesses hat er zuweilen nur ein wohlwollend-müdes Lächeln übrig. So weit waren wir doch schon mal, vor nunmehr mehr als hundert Jahren....

Sympathisch sind auch die wiederholt eingestreuten Splitter aus der eigenen vierzigjährigen Forschungstätigkeit; Schlögel beweist sich nicht nur als begnadeter Erzähler der Geschichte, sondern auch als vorbildlicher autobiographischer Aphoristiker, dem es gelingt, aus dem eigenen Erleben die Quintessenz von Strukturen, Ereignissen und Zäsuren deutlich zu machen. Jedem, der das überprüfen möchte, seien die Szenen ans Herz gelegt, in denen Schlögel den Aufwand für das Versenden seiner gesammelten Bücher aus der Sowjetunion in die Heimat schildert.

Gerade diese kurzen Episoden lassen den Leser hoffen, dass Schlögel die Zeit finden möge, aus diesen kurzen Beschreibungen einmal ein größeres autobiographisches Werk zu verfassen.


Rezension zu: Karl Schlögel, Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent, München 2013.