Sucht das Feuilleton noch immer den
Roman zum Ende der DDR? Die Suche hat in diesem Herbst, 25 Jahre nach
Öffnung der Grenzen, ein Ende. Lutz Seilers „Kruso“ ist die wohl
beste bislang erschienene Annäherung an die Geschehnisse im Jahr
1989.
Weniger das inzwischen sprichwörtliche
Leben der Anderen, sondern ein anderes Leben, das richtige Leben im
falschen, die Freiheit in der Unfreiheit sind Seilers Themen.
Geschickt siedelt er seine (autobiographisch gefärbte) Geschichte im
äußersten Randgebiet der DDR an, auf dem kleinen Raum der
Ferieninsel Hiddensee suchen seine Akteure die Freiheit – und
werden von der Grenzöffnung überrascht.
Die Insel wird im Roman zur Metapher;
jeder sucht sich seine Enklave möglichst großer Freiheit. Die
historisch belegten Einquartierungen von Besuchern auf der Insel, die
der Enge der DDR entkommen wollten, werden mit esoterisch anmutenden
Initiationsriten versehen und so zum Eingangstor in eine andere Welt.
Das Leben der Hauptfigur Edgar Bendler,
dessen Freundin von einer Straßenbahn überfahren wurde, gerät aus
den Fugen. Statt der vielversprechenden Fortsetzung des
Germanistikstudiums findet sich Edgar (genannt Ed) mittellos auf
Hiddensee wieder, der Insel, deren Namen den namensgebenden
Protagonisten Krusowitsch (genannt Kruso) zu allerlei Wortspielen
einlädt, bedeute „hidden“ doch im Englischen versteckt. Ed wird
Abwäscher in einer Ausflugsgaststätte, taucht immer weiter in die
Geheimnisse der Insel ein, erlebt das Ankommen und Abreisen von neuen
Besuchern, die auch für Ed amourös-existentielle Abenteuer
bereithalten, und freundet sich mit Kruso an.
Wir schreiben das Jahr 1989, die
Massenfluchten, über die der Deutschlandfunk im immer laufenden
Küchenradio berichtet, hinterlassen auch ihre Spuren auf Hiddensee.
Die „Besatzung“ schrumpft, immer mehr Mitarbeiter aus der
Gaststätte entschließen sich zur Flucht über das Meer bis auf das
dänische Festland – und nicht alle schaffen diese gefährliche
Reise.
Die Idee, die Freiheit vor Ort zu
ermöglichen, scheitert, die Verlockungen des Westens sind zu stark.
Seilers Roman bezieht seine Stärke zunächst aus dem Raum, in dem er
angesiedelt ist: Hiddensee, nicht mehr ganz DDR (trotz Grenztruppen
und „Hygieneinspektoren“ mit verdächtigen
Staatssicherheitsallüren), aber noch nicht Westen, so liegt die
Insel im Zwischenraum – in dem Zwischenraum, in dem die von Kruso
so viel gepriesene Freiheit zu finden ist. In magisch-realistischem
Stil (als letzter Abgesang auf den realsozialistischen Realismus der
Literatur der DDR?) beschreibt Seiler diese Exterritorialität als
Möglichkeit, sich zumindest den Sommer über, frei zu fühlen und
frei zu leben. Diese Suche nach etwas Anderem, nach dem anderen Leben
jenseits von staatlicher Gängelung und kapitalistischer Verführung
gibt Seiler in seinem Roman Raum. Eine Suche, die durch die
Wiedervereinigung jäh unterbrochen wurde und an die zum Ende hin
sowieso nur noch der daran psychisch zugrunde gehende Kruso und Ed
geglaubt zu haben scheinen.
Seiler schließt mit einem Epilog, in der die Suche weitergeht. Die DDR ist inzwischen - sinnbidlich - untergegangen, Ed hingegen lässt der Gedanke an die bei ihren Fluchtversuchen ums Leben gekommenen Flüchtlinge nicht los und beginnt die Recherche; allein für diese letzten dreißig Seiten lohnt die Lektüre des Buches, gehen sie doch in einem mehr als überzeugten Reportage-Stil den Versäumnissen der wiedervereinigten Erinnerungskultur in Bezug auf diese Opfergruppe mehr als überzeugend nach.
Die Homepage des Suhrkamp-Verlages zum Roman
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