Samstag, 6. September 2014

"Der Keim der wahren Freiheit, gedeiht in Unfreiheit." Lutz Seiler hat mit seinem Roman "Kruso" den wohl bedeutendsten literarischen Beitrag zum Ende der DDR geschrieben

Sucht das Feuilleton noch immer den Roman zum Ende der DDR? Die Suche hat in diesem Herbst, 25 Jahre nach Öffnung der Grenzen, ein Ende. Lutz Seilers „Kruso“ ist die wohl beste bislang erschienene Annäherung an die Geschehnisse im Jahr 1989.

Weniger das inzwischen sprichwörtliche Leben der Anderen, sondern ein anderes Leben, das richtige Leben im falschen, die Freiheit in der Unfreiheit sind Seilers Themen. Geschickt siedelt er seine (autobiographisch gefärbte) Geschichte im äußersten Randgebiet der DDR an, auf dem kleinen Raum der Ferieninsel Hiddensee suchen seine Akteure die Freiheit – und werden von der Grenzöffnung überrascht.

Die Insel wird im Roman zur Metapher; jeder sucht sich seine Enklave möglichst großer Freiheit. Die historisch belegten Einquartierungen von Besuchern auf der Insel, die der Enge der DDR entkommen wollten, werden mit esoterisch anmutenden Initiationsriten versehen und so zum Eingangstor in eine andere Welt.

Das Leben der Hauptfigur Edgar Bendler, dessen Freundin von einer Straßenbahn überfahren wurde, gerät aus den Fugen. Statt der vielversprechenden Fortsetzung des Germanistikstudiums findet sich Edgar (genannt Ed) mittellos auf Hiddensee wieder, der Insel, deren Namen den namensgebenden Protagonisten Krusowitsch (genannt Kruso) zu allerlei Wortspielen einlädt, bedeute „hidden“ doch im Englischen versteckt. Ed wird Abwäscher in einer Ausflugsgaststätte, taucht immer weiter in die Geheimnisse der Insel ein, erlebt das Ankommen und Abreisen von neuen Besuchern, die auch für Ed amourös-existentielle Abenteuer bereithalten, und freundet sich mit Kruso an.

Wir schreiben das Jahr 1989, die Massenfluchten, über die der Deutschlandfunk im immer laufenden Küchenradio berichtet, hinterlassen auch ihre Spuren auf Hiddensee. Die „Besatzung“ schrumpft, immer mehr Mitarbeiter aus der Gaststätte entschließen sich zur Flucht über das Meer bis auf das dänische Festland – und nicht alle schaffen diese gefährliche Reise.


Die Idee, die Freiheit vor Ort zu ermöglichen, scheitert, die Verlockungen des Westens sind zu stark. Seilers Roman bezieht seine Stärke zunächst aus dem Raum, in dem er angesiedelt ist: Hiddensee, nicht mehr ganz DDR (trotz Grenztruppen und „Hygieneinspektoren“ mit verdächtigen Staatssicherheitsallüren), aber noch nicht Westen, so liegt die Insel im Zwischenraum – in dem Zwischenraum, in dem die von Kruso so viel gepriesene Freiheit zu finden ist. In magisch-realistischem Stil (als letzter Abgesang auf den realsozialistischen Realismus der Literatur der DDR?) beschreibt Seiler diese Exterritorialität als Möglichkeit, sich zumindest den Sommer über, frei zu fühlen und frei zu leben. Diese Suche nach etwas Anderem, nach dem anderen Leben jenseits von staatlicher Gängelung und kapitalistischer Verführung gibt Seiler in seinem Roman Raum. Eine Suche, die durch die Wiedervereinigung jäh unterbrochen wurde und an die zum Ende hin sowieso nur noch der daran psychisch zugrunde gehende Kruso und Ed geglaubt zu haben scheinen.

Seiler schließt mit einem Epilog, in der die Suche weitergeht. Die DDR ist inzwischen - sinnbidlich - untergegangen, Ed hingegen lässt der Gedanke an die bei ihren Fluchtversuchen ums Leben gekommenen Flüchtlinge nicht los und beginnt die Recherche; allein für diese letzten dreißig Seiten lohnt die Lektüre des Buches, gehen sie doch in einem mehr als überzeugten Reportage-Stil den Versäumnissen der wiedervereinigten Erinnerungskultur in Bezug auf diese Opfergruppe mehr als überzeugend nach.

Die Homepage des Suhrkamp-Verlages zum Roman

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